Nathanael
Prolog
Nur noch einen Schritt vorwärts und alles wäre vorbei. Schon wagte sich ihre Fußspitze über den Rand des Daches.
Jetzt spring endlich , forderte die Stimme in ihrem Kopf. Aber ihre Angst hielt sie zurück. Ihr Herz hämmerte bis zum Hals.
Eisiger Wind fuhr durch ihre Kleidung. Zitternd verschränkte sie die Arme vor der Brust und betrachtete die Gänsehaut auf ihren nackten Unterarmen, als sähe sie sie zum ersten Mal.
Es war ein unbeschreibliches Gefühl, noch ein letztes Mal seinen Körper zu spüren, sich lebendig zu fühlen, bevor alles im Nichts versank.
Wie leicht war es, ein Leben auszulöschen. So einfach wie das Ausblasen einer Kerzenflamme.
Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen.
Mit dem Tod verlor alles seine Bedeutung: die Zeit, der Ort, die Menschen, die einem nahe standen, und man selbst. Stille, Dunkelheit und Vergessen. Dinge, nach denen sie sich sehnte, weil das Leben unerträglich geworden war.
Sie schloss die Augen und breitete die Arme aus. Ihre Bluse blähte sich im Wind. Sie fror entsetzlich, aber das war ihr egal. Alles, was für sie in diesem Moment zählte, war das Gefühl von Freiheit, das sie überkam. So mussten Vögel empfinden, wenn sie durch die Lüfte schwebten.
Als sie die Augen wieder öffnete, blickte sie auf Manhattan herab, dessen Lichtermeer sich bis zum Horizont erstreckte. Die City wirkte von hier oben lächerlich klein, wie eine Miniaturspielwelt. Irgendwo heulten Polizeisirenen durch die Straßen.
Dort unten hatte sie gelebt, doch jetzt gab es für sie an diesem Ort keinen Platz mehr.
Kannst du wirklich so aus dem Leben scheiden und alles hinter dir lassen? Mit aller Kraft versuchte sie, die Zweifel niederzukämpfen, als sie an ihre Mutter dachte, die auf sie angewiesen war.
Sie nutzt dich nur aus.
Die Stimme war wieder zurück, eindringlicher als zuvor.
Welchen Sinn hat dein Leben? Dich für andere aufzuopfern? Befreie dich endlich von den Fesseln der Pflicht. Wenn du stirbst, kann sie dich nicht mehr gängeln.
Seit vielen Jahren kümmerte sie sich um ihre Mutter, ertrug ihre Launen und verzichtete ihretwegen auf alles.
Die Stimme hatte recht. Das Leben an ihrer Seite war unerträglich geworden. Es gab keinen anderen Ausweg für sie, als aus diesem Teufelskreis auszubrechen.
Wenn sie jetzt sprang, war sie frei.
Langsam beugte sie den Oberkörper weiter vor.
Ja, so ist es gut. Nur noch einen Schritt, dann bist du frei.
Frei! Frei! , hallte es in ihr nach.
Sie schauderte beim Anblick der Tiefe. In ihrem Innern krampfte sich alles zusammen.
Zwanzig Stockwerke trennten sie vom Boden. Wie würde es sein, wenn ihr Körper dort unten aufschlug? Sie fürchtete sich vor dem schmerzvollen Aufprall und davor, dass sie vielleicht überleben könnte. Herrgott, war sie feige.
Du wirst keinen Schmerz verspüren. Warum zögerst du also noch? Spring!
Die Stimme in ihrem Kopf ließ sich nicht vertreiben, im Gegenteil, sie wurde immer lauter. So laut, dass alles um sie herum sich zu drehen begann, bis ihre Knie weich wurden. Aber die Stimme kannte keine Gnade.
Spring endlich! , forderte sie.
Sie hielt sich die Ohren zu, geriet ins Schwanken und verlor das Gleichgewicht.
Mit einem Aufschrei kippte sie vornüber und stürzte in die Tiefe. In Panik ruderte sie wild mit den Armen und schrie, ohne aufzuhören.
Mit weit aufgerissenen Augen sah sie die Lichter auf sich zurasen.
In wenigen Augenblicken wäre alles vorbei. Bilder ihres Lebens zogen in rasantem Tempo vor ihren Augen vorbei, schneller als die Fenster des Hochhauses, von dem sie gesprungen war.
Plötzlich hörte sie über sich Flügelschläge, die sich rasch näherten.
Geflügelte Wesen tauchten aus dem Nichts neben ihr auf, packten sie und begannen an ihr zu zerren, als veranstalteten sie ein Tauziehen.
Verzweifelt wehrte sie sich gegen die Krallenhände, die mühelos ihren Körper durchdrangen, als bestünde er aus Papier, und ihr rasendes Herz umspannten.
Sekunden später schlug ihr Körper auf den vom Regen nassen Asphalt und ihr Geist versank in Dunkelheit.
1.
Tessa McNaught hastete die Fifth Avenue entlang zur U-Bahn-Station.
Die kühle Frühlingsluft half, aber sie hatte noch immer schreckliche Kopfschmerzen.
Sie war mal wieder spät dran, ausgerechnet heute, wo sie zur Wall Street musste. Ihr Chef würde ihr den Kopf abreißen, wenn sie nicht pünktlich erschien, um am Börsenhandel teilzunehmen. Wenn sie nur nicht so hundemüde
Weitere Kostenlose Bücher