Der Sixtinische Himmel
ihr Leib ewig schwanger geblieben wäre!
Altes Testament, Buch Jeremia
1. November 1512
Weder Michelangelo selbst noch Papst Julius sollten miterleben, wie ganz Rom vor Staunen über die Fresken in Verzückung geriet. Nicht einmal die Entdeckung der Laokoon-Gruppe sechs Jahre zuvor oder die Nachricht über den Sieg bei Agnadello hatten die Stadt in einen ähnlichen Taumel versetzt. Kaum waren die ersten Besucher auf die linke Tiberseite zurückgekehrt und hatten mit verklärten Gesichtern das »Wunder der Sistina« in der Stadt verkündet, strömten die Menschen erst zu Hunderten, wenig später zu Tausenden auf die Gassen und strebten zum Vatikan. Der Polizeipräfekt erlebte einen seltenen Moment hellsichtiger Klarheit und stellte kurzfristig vier Dutzend Uniformierte ab, um den Pilgerstrom, der sich über den Ponte Sant’Angelo drängte, in geordnete Bahnen zu lenken und größeres Unheil zu verhindern. Am Abend notierte Paris de’ Grassi in seiner Chronik nicht weniger als siebenundvierzig in Ohnmacht Gefallene unter den Besuchern, und Egidio da Viterbo, der mit dem Bildprogramm Michelangelos alles andere als einverstanden war, schrieb, es sei unmöglich, von dem Fresko nicht ergriffen zu werden. Selbst der bibelunkundigste Betrachter müsse sich von der physischen Wucht des Dargestellten gleichsam in die Knie zwingen lassen.
Noch am selben Tag trat die Nachricht von Michelangelos Wunder ihren Siegeszug über die Welt an. Während auf Anordnung des Papstes Aphrodites Gemächer vermauert wurden, Julius selbst sich aufgrund peinigender Schmerzen im Bett wälzte und Michelangelo sich wie ein Fötus auf dem Boden seiner Kammer krümmte und stundenlang nichts anderes tat, als die bräunlichen Abdrücke an der Wand anzustarren, die seine blutigen Fingerkuppen dort hinterlassen hatten, wurde die Kunde des göttlichen Kunstwerks aus den Toren der Stadt in alle Himmelsrichtungen getragen. Zwei Tage später erreichte sie Neapel und Florenz, am vierten Tag Mailand und Venedig und gelangte binnen einer Woche nach Deutschland und Frankreich, nach Spanien, Afrika und bis zu den Osmanen.
* * *
Als die Glocke der kleinen Kirche an der Piazza Rusticucci zur letzten Hore des Tages läutete, packte Aurelio seine Sachen. Es war kaum mehr, als er viereinhalb Jahre zuvor mit nach Rom gebracht hatte. Damit die Zeichnung Aphrodites unter seinem Hemd keinen Schaden nahm, wickelte er sie in ein Wachstuch ein. Er hatte sich nicht dazu bringen können, seinem Meister ihren Diebstahl zu beichten. Inzwischen war er unsicher, ob es nicht besser so war. Er würde sie behalten und eines Tages mit ihr begraben werden. Niemand musste je davon erfahren. Von den zwölf Fiorini, die sein Vater ihm auf dem Sterbebett überantwortet hatte, hatte er nur das Geld für die Bauernschuhe mit der doppelten Sohle ausgegeben. Die würden ihn nun hoffentlich nach Forlì zurückbringen, bevor auf dem Apennin der erste Schnee fiel. Von seinem Sold hatte er nicht weniger als siebzehn Dukaten zurückbehalten. Er war ein wohlhabender Mann. Zwei Hemden, zwei Trikothosen, einen Umhang, sein Barett, die Zeichnung, die sein Meister ihm geschenkt hatte, damals. Mehr würde er nicht mitnehmen. Sein Messer noch.
Mit jeder Stufe, die Aurelio zu Michelangelos Kammer emporstieg, nahm das Gewicht seiner Beine zu. Bis er auf dem Absatz anlangte, waren sie wie mit Blei ausgegossen. Die Tür war unverschlossen. So, wie Michelangelo auf der Bettkante saß und die Ellenbogen auf die Oberschenkel stützte, glich er dem Jeremias seines Freskos. Er starrte die eingetrockneten Blutflecken an. Seine hageren Beine ragten wie Stelzen unter der Leinentunika hervor, und die nackten Füße wirkten auf den dunklen Holzbohlen wie abgestorben. Die Luft schmeckte schal und verbraucht. Sein Gesicht war das Gesicht eines Mannes, den nur der eigene Herzschlag noch am Leben hielt. Aurelio verharrte auf der Schwelle.
»Dich trifft keine Schuld«, sagte Michelangelo unerwartet. » Gott hat mich gestraft.« Offenbar war dies die Frucht eines langen Tages kreisender Gedanken.
»Kann ich etwas für Euch tun, Maestro?«
»Ich habe mich gegen den Schöpfer versündigt«, fuhr er fort, ohne den Blick von der Wand zu nehmen. Der Nagel seines linken Daumes kratzte über seine rechte Handfläche. »Ich habe zugelassen, dass meine Eitelkeit die Demut vor der Schöpfung in Hochmut verkehrt hat. Deshalb hat Gott entschieden, aus meinem größten Triumph meinen Untergang zu machen.« Sein Blick tastete
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