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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
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Vorstellung, Mitch ein ganzes Jahr lang nicht zu sehen und nicht auf ihn achtgeben zu können. Er ist noch so jung. Er isst alles, was man ihm vorsetzt, aber setzt man ihm nichts vor, ernährt er sich notfalls von M&Ms. Ich habe ihm mehrfach gezeigt, wie man Spaghetti kocht und eine Soße dazu macht. Aber er war mit seinen Gedanken meistens woanders. Er ist mit seinen Gedanken immer woanders. Ich verkneife mir einen Kommentar dazu.
    Als Tara Mitch gerade erzählt, dass es in den Wäldern um Berkeley eine Art Panther gebe, hören wir aus der Küche einen Knall. Er muss von einer Schüssel oder einem Teller herrühren, dem Klang nach zu urteilen, gefüllt. Jetzt erhebt sich ein Gebrüll, das nur aus der Kehle meines Vaters kommen kann. Wir sehen einander ratlos an. Jacob blickt zu mir, aufrichtig beunruhigt, Tara und ich sehen uns gegenseitig an, auch wir besorgt und schon darauf gefasst, dass wir uns mit einem verdorbenen Abend abfinden müssen, meine Mutter schaut panisch, mit vor Schreck geweiteten Augen in die Runde.
    Meine Tochter Tess hört Musik auf ihrem iPod und hat gar nichts mitbekommen. Mitch legt, ohne eine Miene zu verziehen, seine Zeitung hin, steht auf und geht zur Küche. Noch bevor wir anderen uns übertrieben laut fragen können, ob wohl alles in Ordnung ist und nicht so schlimm, wie es sich anhörte, hat er die Küchentür schon wieder hinter sich geschlossen.
    Jetzt wird alles gut. Denn Mitch ist der Einzige, der dort jetzt geduldet wird – das wissen wir alle. Nie werden wir erfahren, was runtergefallen ist. Jetzt, da Mitch zur Stelle ist, werden wir nicht vermissen, was dort jetzt aufgekehrt wird. Es wird ihr Geheimnis bleiben.
    Mitch ist mit seinen achtzehn Jahren das jugendliche Ebenbild meines Vaters. Und so gleichgültig und schnoddrig er normalerweise sein kann, so erwachsen, interessiert und vernünftig ist er im Beisein seines Großvaters.
    Als meine Mutter, Tara und ich, inzwischen kichernd vor Erleichterung, das Ohr an die Küchentür drücken, hören wir zuerst Gebrumm und das Zusammenfegen von Scherben, dann wird das Radio angemacht, und zu guter Letzt ertönt sogar Gelächter.
    Wir kommen uns ein kleines bisschen ausgebootet vor, aber in diesem Fall ist das kein so schlechtes Gefühl, weil Mitch es ist, der uns den Abend rettet.
    Wir huschen in den Wintergarten zurück, wo Jacob und Tess unterdessen den Fernseher eingeschaltet haben. Meine Mutter findet Fernsehen ungemütlich. Wir sollten ein Gläschen trinken, findet sie, und stellt Knabbergebäck auf den Tisch. Den Wein müsst ihr euch dazudenken, sagt sie. Aus Solidarität mit meinem Vater und seinen Kohlrouladen lehne ich ab.
    Als mein Vater eine halbe Stunde später auf einer gigantischen Platte seine dampfenden Kreationen hereinträgt, mit rot glänzendem Gesicht und besessenem Blick, ist alles vergeben und vergessen. Aus Liebe muckt keiner von uns auf, als er uns ganz ohne Humor anblafft, augenblicklich am Tisch Platz zu nehmen, da sonst alles kalt werde. Mitch trägt eine Schüssel mit Soße. Tess, die sonst nie zur Mithilfe zu bewegen ist, hat einen Soßenlöffel in der Hand und trällert aus unerfindlichem Grund lauthals das alberne Kinderlied, das Jacob ihr immer vorgesungen hat, als sie noch ganz klein war: »Drei Gäns im Haberstroh, saßen da und waren froh…«
    Mein Vater tut uns auf, setzt sich, seufzt, puh! Unser erster Bissen wird zum feierlichen Moment. Die Rouladen sind köstlich, auch wenn wir das bei jedem Bissen beteuern müssen.
    Es sollte das letzte Mal sein, dass wir sie von meinem Vater zubereitet aßen.

 
    1
     
    Nach allem, was passiert ist, weiß ich jetzt zumindest eines ganz sicher: dass die Besorgnis meines Vaters um uns nicht umsonst war. Wer so magisch denkt wie ich, könnte sogar behaupten, dass er uns mit dieser gigantischen Besorgnis beschützt hat. Unter seinem wachsamen Blick und seiner erbitterten Lenkung blieben uns Katastrophen, Unglücksfälle und Kriege erspart – und nach seinem Tod ging auffällig viel schief. Oder anders ausgedrückt: Bis zu seinem Tod war alles gutgegangen, aber dann war es damit vorbei. Vielleicht war das Schicksal ihm etwas schuldig gewesen, nach all dem, was es ihm angetan hatte, und als er nicht mehr war, gab es dann kein Halten mehr.
    Oder ist Schicksal ein zu freundliches Wort für die Gewalt, der wir ausgesetzt wurden?
    Ohne das »Gib acht!«, »Vorsicht!«, »Tu das lieber nicht!« meines Vaters kann ich jetzt nur hoffen (und beten und flehen), dass ich in

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