Der Sohn (German Edition)
Kerzen angezündet wurden und der Truthahn zerteilt wurde. Aber dann wollte er gern »in sein Zimmer«. Was er dort vorhatte, weiß ich nicht. Ich hörte ihn die Treppe hinaufpoltern und seine Zimmertür aufschließen. Sie war mit drei Schlössern versehen – einem Zylinderschloss oben, einem normalen Einsteckschloss in der Mitte und einem trickreichen sternförmigen Schloss unten, das mit einem kleinen Schlüsselchen geöffnet wurde – und immer verriegelt, wenn er nicht gerade drinnen war. Dann folgte das kurze Quietschen der Tür, die er anschließend resolut hinter sich zudrückte. Das hatte etwas Bedrohliches – als betrete er eine geheime Stadt, eine Welt, die ihn mit offenen Armen empfing und nicht so bald wieder gehen lassen würde. Eine für uns verbotene Welt, selbst für Iezebel, wenn auch weniger strikt.
In seinem Zimmer war alles Mögliche, was ihn völlig in Anspruch nahm, denn ich hörte immer sofort die Rollen von seinem Schreibtischstuhl, mit dem er rasante Fahrten durch seine Zimmerstadt machte. Er schien mit seinem Rennstuhl vom einen Ende zum anderen zu düsen, vom Tisch zum Bücherregal und wieder zurück, während er wie wild Informationen sammelte, Entdeckungen machte und mit wer weiß wem telefonierte. Gleich nach dem Rollendonner der ersten Kurve im Drehstuhlrennen folgte immer das laute, hohe Aufschnappen der Metallfeder, wenn er die Verriegelung von seinem Schreibtisch löste und damit die Schubladen voller Geheimnisse freigab. Offenbar musste er jedes Mal, wenn er in sein Zimmer kam, kurz kontrollieren, ob sie noch alle dort lagen, wo sie hingehörten.
Ich litt indes sehr wohl darunter, dass mein Vater an meinem Geburtstag nicht unten war, bei mir, denn es sollte schließlich schön sein und ein besonderer Tag. Es war nicht zum Aushalten, wie meine Mutter allein hilflose Versuche unternahm, etwas Festlich-Fröhliches aus dem Ganzen zu machen – wobei sie mir nicht nur leidtat, sondern mich mindestens genauso sehr ärgerte.
Mein Vater hatte auch seinen Vater an seinem fünfzehnten Geburtstag zum letzten Mal gesehen. Wie sich das genau abgespielt hatte, wusste ich nicht. Die Eltern meines Vaters wurden an Orte gebracht, wo sie nichts Gutes erwartete, und er musste bleiben, wo er war – eine Logik, die nur durch das Wort Krieg zu erklären ist, Umstände, unter denen menschliche Beziehungen für die, die die Fäden in der Hand halten, keinerlei Bedeutung haben.
Gebannt von den Geschehnissen, die er überlebt hatte, hat mein Vater als Hochschullehrer für neuere und neueste Geschichte lange an der Universität unterrichtet, aber er hat sich nie dazu veranlasst gesehen, sein Leben in einem Buch aufzuzeichnen.
Von seiner Mutter Zewa hatte er sehr wenig erzählt. Ich sah nur ein Foto vor mir, wenn ich an sie dachte. Ihr Charakter, ihre Angewohnheiten, wie und was sie redete, das alles kam in keiner Erzählung vor. Danach zu fragen war tabu. Die wenigen Male, da er überhaupt auf sie zu sprechen kam, verzog mein Vater das Gesicht zu einer starren Maske, die mir Angst machte. Ich vermutete, dass er sie gar nicht so gut gekannt hatte. Denn obwohl er mit erst fünfzehn schon sehr widrige Umstände zu meistern hatte, hatte er seine Mutter vielleicht doch noch zu sehr wie ein Kind geliebt, um sie von außen betrachten zu können. Dass ich so wenig wusste, bedauerte ich unendlich, als er krank wurde und immer wieder nach ihr rief.
Sehr schwer krank wurde er. Durch das Fieber und das Morphium, das man ihm gab, halluzinierte er und rief nach seiner Mutter, die seit mehr als fünfundsechzig Jahren tot war. Er hatte offensichtlich Angst in seinem Fieberwahn, große Angst. Ich verstand immer ungefähr dieselben Worte.
»Wagner«, verstand ich, »Vorsicht!« Und: »Meine Mutter«, »beschützen« (möglicherweise »soll euch beschützen«, ich konnte das nicht richtig verstehen). Dann: »Nicht vergessen!« Und: »…komme gerade!« Auch den Namen Federmann meinte ich zu hören.
Wovon redete er? Dieses plötzliche Deutsch war unheimlich. Auch, wie er es sprach, dieses altmodische Deutsch, mit gerolltem R und in einer Art Singsang. Dabei schien es ihm egal zu sein, ob ich zuhörte oder nicht. Das war seltsam. Als sei er in eine Zeit zurückgekehrt, in der ich nicht vorkam.
Seine Kriegserinnerungen kannte ich ein wenig. Davon hatte er erzählt, und dadurch hatte er sie in den Griff bekommen, eine Geschichte daraus gemacht. Es war eine furchtbar bittere, kaum zu ertragende Geschichte, aber dennoch:
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