Der Sohn (German Edition)
Wenn ich an meine Familie denke, sehe ich auch heute noch immer diesen einen Abend vor mir. Wir waren alle zusammenkommen, weil Mitchs Abreise nach Berkeley bevorstand. Nicht, dass wir so viele gewesen wären. Zu siebt waren wir vollzählig – Tote und nie Geborene nicht mitgerechnet. Unser Sohn ging für ein Jahr nach Amerika, um Filmwissenschaft zu studieren und Fußball zu spielen. Und mein Vater machte Kohlrouladen mit Kümmel.
Das ist kein Gericht, über das man die Nase rümpfen sollte. Mein Vater bereitete Kohlrouladen mit Kümmel nur bei ganz besonderen Anlässen zu.
Im Haus meiner Eltern riecht es nach einer Zeit lange vor unserer Geburt, einem früheren Leben, denke ich, als wir hereinkommen. Wenn mein Vater das Essen zubereitet, wird das Kochen zu einer höchst bedeutsamen Angelegenheit. Dann ist niemand willkommen im Operationssaal, der normalerweise Küche heißt. Nicht einmal Jacob, mein Mann, der große Film- und Fernsehproduzent, an dessen starken Geschichten mein Vater sonst so viel Freude hat. Vielleicht gerade Jacob nicht. Mein Vater wetteifert zwar gern mit ihm und versucht, seine Berichte aus der Welt zu überbieten, aber jetzt würde ihn das nur ablenken. Mein Vater nimmt keine Aufgabe im Leben auf die leichte Schulter, die Zubereitung von Kohlrouladen schon gar nicht. Kohlrouladen sind heilig. Er bereitet sie nach dem Rezept seiner Mutter zu, die sie wiederum nach dem Rezept ihrer Mutter machte, und die hatte sich ganz nach den Anweisungen ihrer Mutter gerichtet. Das sind keine unverbindlichen Empfehlungen, das sind Gebete, Psalmen, Fleisch gewordene Worte – beziehungsweise in Kohl gewickelte.
Meiner Mutter, Iezebel, geht der ganze Aufstand immer etwas auf die Nerven. Dass die Küchentür geschlossen bleibt, damit der Schöpfer da drinnen nicht in seiner Inspiration gestört wird, ist für eine, die nicht immer aus freien Stücken so viel Zeit ebendort zubringt, kaum zu ertragen. Nicht, dass sie sich beklagen wolle, aber ohne sie in der Küche würden wir alle verhungern, murrt sie. Anfälle von Kohlrouladenfieber sind selten, und die Rollenverteilung in unserer Familie ist einigermaßen traditionell. Wir wissen alle, wer das wüst zugerichtete, verschmierte Atelier des Teilzeitkünstlers hinterher wieder in einen nutzbaren Raum zurückverwandeln wird.
Meine Mutter war früher Französischlehrerin. Sie hat ein spitzes Gesicht und lange, jetzt graue, früher braune Haare, die sie seit dreißig Jahren zum immergleichen Knoten windet. Meine Mutter ist eine hochgewachsene Frau, auch heute noch, und früher galt sie als streng. Als strenge Lehrerin. Nur meine Schwester Tara und ich wussten, dass das gar nicht stimmte. Ihre Schüler sollten sie ruhig für streng halten, bei uns war sie immer locker und nachgiebig, und nicht selten verschworen wir drei uns gegen den Einzigen in der Familie, der wirklich streng war, vor lauter besessener Sorge um uns: meinen Vater.
Mein Vater ist nicht so groß, aber breitschultrig, hat ein feingeschnittenes, markantes Gesicht mit dunkelbraunen Augen und schmaler Nase, dichtes weißes Haar und eine Stimme, mit der er laut brüllen kann, meistens aber sanft und leise Geschichten erzählt.
Meine Schwester Tara ist auch da. Tara ist drei Jahre älter als ich. Sie hat dunkles Haar und eine sehr helle Haut – schön, auf eine etwas biestige Art. Tara ist noch auf der Suche nach dem richtigen Mann, denn wenn sie mal einen gefunden hat, der ihren hohen Ansprüchen genügt, serviert sie ihn meist schon nach wenigen Monaten wieder ab. Dass mal einer länger bleibt, ist die Ausnahme. Sie beneide mich um Jacob, hat sie schon mal gesagt, dann aber gleich hinzugefügt, dass sie niemals mit jemandem zusammenbleiben könnte, den sie schon von klein auf kenne. Dafür habe sie schon zu viele Entwicklungsphasen durchlaufen.
Tara ist in der Küche genauso unwillkommen wie ich.
Wir sitzen alle im Wintergarten meiner Eltern, einem noch relativ neuen, modernen Anbau. Meine Mutter hat uns noch eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank sichern können, bevor mein Vater die Küche in Beschlag nahm, aber die haben wir in Erwartung der Dinge, die da kommen mögen, inzwischen ausgetrunken.
Mitch, der drei Wochen lang sein bestandenes Abitur gefeiert hat, sieht blass aus. Er ist noch nicht lange wach und gar nicht richtig anwesend. Ich weiß, dass er sich auf das bevorstehende Abenteuer Berkeley freut, das ihm durch ein Soccer Scholarship ermöglicht wird.
Mich schreckt die
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