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Der Sommer der Vergessenen: Band 1 von 2 (German Edition)

Der Sommer der Vergessenen: Band 1 von 2 (German Edition)

Titel: Der Sommer der Vergessenen: Band 1 von 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Grandjean
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große Umwege zu vermeiden, übernahm Rolo schließlich die Navigation.
    Lange musste er die Landkarten studieren, bis er das kleine Neunseen entdeckte. Wo Rabenstadt schon ein recht übersichtlicher Ort war, war Neunseen ein echtes Nest. So winzig war der Fleck auf der Karte, der das Dorf kennzeichnete, es hätte Fliegendreck sein können. Neunseen lag inmitten von vielen blauen Flecken und grünen Flächen, die Seen und Flüsse in großen Wäldern symbolisierten. Umgeben von einem Gebirge trug das Ganze den Namen Nachtschattental. In Rolo erwachte der Entdecker.
    „ Wieso hab ich noch nie davon gehört oder gelesen? Ist doch nur eine Tagesreise entfernt?“
    „ Was sagst du?“, fragte sein Vater.
    „ Ach, schon gut.“ Rolo hatte einfach keine Lust zu reden.
    So wurde es Mittag. Als sie beinahe die halbe Strecke bewältigt hatten, bekam Rolo den ersten Vorgeschmack der Fremde. Die Landschaft jenseits der Straße veränderte sich. Kleine Hügel tauchten am Horizont auf. Nicht hoch waren sie, nur zarte Erhebungen in einer Landschaft, die ihr buntes Sommergewand aus Gräsern und erntereifem Getreide trug. Bald sahen sie Wälder, in denen die Bäume, anders als zuhause, nicht in ordentlich gepflanzten Reihen wuchsen. Dicht und verwuchert standen sie und erschienen Rolo sehr geheimnisvoll. Der wilde Charme lockte ihn, und lange blickte er über die Schulter zurück, als sie längst vorbeigefahren waren.
    Er konnte sich nicht daran erinnern, seine Tante Farrah schon mal gesehen zu haben. Auch in den Erzählungen seines Vaters kam sie nie vor. Er war sehr gespannt, jemanden zu treffen, der seine Mutter gekannt hatte.
    Aus grünen Hügeln wurden bewaldete Berge. Sie warfen lange Schatten über tiefe Täler. Kleine Ortschaften lagen dort, durch die sich Flüsse schlängelten. Sie fuhren über eine Brücke, und zu beiden Seiten ging es Hunderte von Metern in die Tiefe. Unten floss ein reißender Strom zwischen den Brückenpfeilern hindurch. Rolo war begeistert. Die Fahrt dauerte jetzt schon viele Stunden. Sie verließen unter Rolos Kommando die Hauptstraße und bogen auf eine schmale Serpentine. Hier sahen sie das erste Schild mit der Aufschrift Neunseen. Wo der Weg bisher sachte anstieg, fuhren sie jetzt mitten durch das Gebirge. Zu ihrer Linken erhob sich eine steile Felswand. Grüne zottelige Pflanzen hingen an ihr hinab wie Bärte. Zu ihrer Rechten ging es steil abwärts in eine Schlucht. Rolo schaute aus seinem Seitenfenster, konnte aber die Tiefe nicht abschätzen.
    „ Bitte kein Gegenverkehr. Alles, nur kein Gegenverkehr“, murmelte Paps nervös. „Diesen Weg habe ich nie gemocht.“
    Er musste schreien, um das Geräusch des Motors zu übertönen. „Schon damals war es die einzige Straße zu Tante Farrah. Aber dass hier immer noch nicht ausgebaut wurde?“
    „ Wahrscheinlich wegen des Gebirges“, rief Rolo. „Hier ist einfach kein Platz. Ich find’s super. Was ist denn im Winter, wenn der Pass zuschneit?“
    „ Es ist keine Seltenheit, dass Neunseen monatelang von der Außenwelt abgeschnitten ist. Aus diesem Grund haben wir Tante Farrah auch nie zu Weihnachten besucht. Wäre nicht unwahrscheinlich gewesen, dass wir vor Ostern nicht wieder zuhause gewesen wären. Viele der Bewohner von Neunseen scheinen gerade das sehr zu mögen. Ist ein ganz eigenes Völkchen. Wirst schon sehen.“
    Die Felswand zur Linken war so steil, dass der höchste Punkt aus dem fahrenden Wagen nicht zu sehen war. Selbst dann nicht, als Rolo sich so weit aus dem Seitenfenster lehnte, bis sein Vater ihn am Hosenbund zurück ins Auto zog. Nach und nach wölbte sich die Felswand zur Straße hin, und schon bald fuhren sie unter einem Felsvorsprung, wie unter einem steinernen Dach.
    Paps drosselte das Tempo und schaltete die Scheinwerfer ein. Der Motor knatterte gleichmäßig. Es war neblig hier drin. Doch machte der Nebel keine Anstalten, hinaus auf die Wiese zu gelangen.
    „ Bestimmt wegen des Luftdruckes“, versuchte Paps zu erklären.
    Rolo schaute durch das Dachfenster des Wagens und betrachtete die steinerne Decke über sich. Aus kleinen Rissen tropfte Wasser hinab. Das Plätschern hallte nach. Flechten und Moose wuchsen hier, gut geschützt vor der Sonnenhitze. Hier unten war immer Zwielicht.
     
    „ Stopp!“, schrie Rolo.
    Sein Vater trat kräftig auf die Bremse. Der Wagen tat einen Ruck und der Motor verstummte. Die Gestalt stand in der Mitte der Straße. Tief ins Gesicht einen breitkrempigen Hut gezogen, unter dem ein

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