Der Sommer der Vergessenen: Band 1 von 2 (German Edition)
war einmal oben, habe aber auch das Wenige darüber gelesen, das es gibt. Die drei großen Erhebungen des Nachtschattentals kannst du sehen, wenn du zwischen den Bäumen hindurchschaust.“ Paps deutete mit den Armen irgendwo ins Grün. „Ich glaube, sie liegen hier, da und dort. Ach, der Kater.“ Er lief zum Auto und hievte den Transportkorb von der Rückbank. „Das Ganze ist nahezu kreisrund. Von Nord nach Süd dauert es Tage, um es zu durchqueren. Von Ost nach West auch. Hier drinnen gibt es so viele Seen und Flüsse, die alle miteinander in Verbindung stehen, dass die Neunseener nahezu alle weiten Strecken mit Booten zurücklegen. Oder zu Fuß, wegen der dichten Wälder. Autos gibt es hier kaum.“
Er stellte den Transportkorb neben dem Wagen auf die Erde. Zu beiden Seiten der Straße wuchsen dichte Himbeerbüsche. Dahinter erhob sich der Wald. Weißbirken, Kiefern und Erlen. Sie standen nicht sehr dicht, und so konnte die Nachmittagssonne zwischen den lichten Baumkronen hindurchscheinen.
„ Seltsam, ich höre gar keine Vögel“, bemerkte Paps, öffnete den Korb und trat beiseite. „So, der Herr. Pinkelpause.“
Igel machte keine Anstalten herauszukommen. Rolo ging in die Hocke.
„ Na, was ist denn los, mein Junge? Beleidigt?“ Er versuchte, den Kater vorsichtig aus dem Korb zu schieben. Igel knurrte.
„ Er will nicht“, rief Rolo seinem Vater zu, der am Straßenrand auf und ab lief und die Arme schwang.
„ Dann lass ihn. Vielleicht sind hier Füchse in der Nähe.“
Nachdem der Kater wieder auf der Rückbank verstaut war, setzten sie ihren Weg fort. Die Straße war bald nur noch ein Feldweg, uneben und schmal. Der Wald wurde dichter. Rolo wollte unbedingt bald darin herumstreunen. Wie dunkel musste es erst in der Nacht sein.
„ Das hier, mein Sohn, ist wahrscheinlich der letzte Urwald in unserem Land. Er bedeckt mehr als die Hälfte des ganzen Tals. Besonders zum Gebirge hin steht er dicht.“
Rolo hörte nicht zu. Er war mit den Gedanken bereits tief in den Wäldern. Flüsse verliefen parallel zur Straße oder kreuzten diese. Sie überquerten eine Brücke. Die Ufer waren steil und ausgewaschen, sodass die Wurzeln der Pflanzen offen lagen. Ein üppiger Bewuchs von Schilf beherrschte das Bild. Ein kleiner See in einer Waldlichtung ließ Rolo wieder an das Buch denken.
„ Sag mal, Paps, was ist das eigentlich für ein Wälzer in deinem Koffer?“
„ Was meinst du?“
„ Na das Buch. Dieses riesige Ding, womit du seit Tagen durchs Haus marschierst.“
„ Ach, das Buch. Das ist eine interessante Geschichte. Ich entdeckte es in den Archiven des Museums, als ich mich mit dem Ende der Kreuzzüge im Jahre 1291 beschäftigte. Das war nämlich so, das die Stadt Akkon in Galiläa als letzter Stützpunkt der Kreuzfahrer durch den ägyptischen Mamelucken-Sultan Chalil …“
„ Paps, bitte, das Buch!“
„ Ach ja, das Buch. Das ist eine interessante Geschichte. Ich entdeckte es zufällig in den Archiven des Museums. Ich stand gerade auf der Leiter, um etwas in einem höheren Regal zu suchen. Im hinteren Teil des Museums ist kein Publikumsverkehr. Wir lagern dort die wirklich wertvollen Bücher. Die meisten wären für den Laien auch nicht von Interesse. Sind überwiegend in lateinischer Sprache verfasst. Ich stand auf der Leiter im alten Lesesaal. Da fiel mir auf, dass ein Buch keine Katalognummer auf dem Rücken hatte.“
Rolo seufzte.
„ Okay, mein Sohn, jetzt pass auf: Dieses Buch ist überhaupt nicht in den Katalogen des Museums zu finden. Ist das nicht spannend? Ich ließ eine Probe des Ledereinbandes im Labor analysieren, um ihm auf die Schliche zu kommen. Das Labor datierte es auf ca. 2000 Jahre vor Christus. Herrje, da war das Papier noch lange nicht erfunden. Natürlich könnten Einband und Papier erst später zusammengefügt worden sein. Aber wer macht denn so was? Und warum? Das ganze Buch ist mit einer schwarzen Tinte geschrieben. Sie ist seltsam verblasst und stinkt bei feuchtem Wetter. Laut Labor ist es eine nicht genauer zu definierende organische Verbindung. Ist das nicht rätselhaft? Erwartet hätte ich eigentlich ein Gemisch aus Ruß, Öl und Leim. Daraus waren nämlich die ersten Tinten, musst du wissen. Ich wollte schon die alten Museumskataloge wälzen, was wirklich eine Sisyphosarbeit geworden wäre, aber dieses Buch hat keinen Autor. Nein, das ist nicht ganz korrekt. Richtig wäre zu sagen, wir können den Autor nicht ermitteln. Das ganze Werk ist nämlich in einer
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