Der Sommer der Vergessenen: Band 1 von 2 (German Edition)
Totenbett.
Mit einem tiefen Atemzug fand Socke seine Mitte und schlug Wurzeln in den harten Untergrund, was ihn viel Kraft kostete. Sein Fell sträubte sich, und er reckte die Arme in die Luft. Gelbe Tränen liefen über seine Wangen, und die schwarzen Sonnen strahlten dunkel, als er die Augen wieder aufschlug und schwarze Wolken aus ihnen sprudelten wie aus Vulkanen. Er fiel auf die Knie, sein Körper bebte.
Die Wolken formierten sich zu einem rotierenden Strudel dicht unter der Höhlendecke, und Regen setzte ein. Die ersten Tropfen kräuselten die Oberfläche des Sees.
Socke spürte noch die erste Windböe, dann fiel er lächelnd in Ohnmacht, denn er wusste, es war vollbracht.
Im selben Moment erreichte Driftwood sein Ziel am östlichen Ufer. Er schnappte keuchend nach Luft, schleppte sich erschöpft den steilen Fels hinauf. Von dort sah er, dass die Irrlichter mit Rolo die Mitte des Sees erreicht hatten. Und Socke, der am gegenüberliegenden Ufer im Schein seines eigenen, schwarzen Lichtes erstrahlend reglos auf dem Fels lag. Blitze zuckten aus den Wolken unter der Decke. „Socke, du bist der Beste!“ Driftwood rieb sich voll Vorfreude die Pfoten.
Am südlichen Ufer blickten die Zwerge ungläubig in den Sturm, der die massigen Stalaktiten umwehte. Sie hatten seit Ewigkeiten keine Wolken mehr gesehen. Grimor schwenkte eine Fackel. Am nördlichen Ufer bestätigten die Zwerge, die nicht mit Driftwood zurückgekehrt waren, das Signal. Die Fackeln flackerten im Wind. Dann entzündeten sie den Teer.
Die Irrlichter fauchten, als am nördlichen und südlichen Ufer breite Flammenzungen aufloderten. Über die gesamte Länge des Ufers hatten die Zwerge schmale Gräben ausgehoben und mit flüssigem Teer befüllt. Der stärker werdende Regen verdampfte zischend in den Flammen. Der Sturm kam in Fahrt.
Rolo spürte den Wind und öffnete die Augen. Er zog das Ei aus seiner Tasche und drückte es fest an sich.
Noch nicht!
Noch nicht!
Der Wind peitschte das Wasser. Donner rollte durch die Höhle. Die Rutschbahn schwankte, dann krachte sie zusammen und versank in den tosenden Fluten.
Die Zwerge schossen brennende Pfeile aus ihrer Deckung hinter den Feuerwänden. Sie trieben die Irrlichter fort von den Ufern.
Driftwood glühte wie ein schwarzer Stern. Er spürte weder Wind noch Regen. Und in dem Augenblick, wo der Wind mannshohe Brecher über den See jagte, schrie er seinen Zauber in den Sturm:
„ See gefriert, und Welt erstarrt.
Eis regiert, der Winter naht.
Kälte herrscht, und Frost zu mir,
Nichts bewegt sich nimmer mehr.
Felsen bricht, und Äste kahl,
Nachtalb spricht, und Sonne fahl,
Kälte herrscht, und Frost im Herz.
Ewig soll der Winter euch verschlingen!“
Und die Magusch wandelte den Regen zu Schnee und Hagel. Die Zwerge wichen zurück, als ihnen ein eisiger Hauch entgegen schlug. Der Teer gefror, und selbst das Feuer erstarrte zu Eis. Driftwood blinzelte erschöpft durch den Schneesturm auf den See hinab. Er durfte die Besinnung nicht verlieren. Noch nicht.
Die Irrlichter trieben haltlos auf dem Wasser. Ein goldenes Licht erstrahlte, und Rolo war verschwunden.
Dann kam die Welle. Sie brach tosend und riss die kreischenden Irrlichter hinab in die Tiefe. Beginnend vom flachen Ufer gefror der See knisternd. Die Wellen erstarrten wie gläserne Skulpturen. Die Irrlichter hatten fast die Oberfläche erreicht, als das Eis sie umschloss und gefangen nahm.
Driftwood ging ein paar Schritte zurück, um Anlauf zu nehmen.
„ Jetzt wird sich zeigen, ob deine Theorie stimmt, Freund Socke! Arschbombe!“ Und dann rannte er los und sprang vom Rand des Felsens. Zu einer Kugel zusammengerollt zerschlug sein Körper das Eis, und mit dem Eis zerbarsten die Irrlichter.
Rolo schreckte auf. Er lag in einer Wasserpfütze und fror bitterlich. Dies war die Halle, von der das Ei sie wegtransportiert hatte. Das Ei, das jetzt wie ein gewöhnlicher Stein in seiner Hand lag.
Es war Rolo plötzlich egal, warum die Irrlichter ihn wollten. Egal, was jetzt mit ihm geschehen würde. Es spielte auch keine Rolle mehr, ob die Ziele der Alben richtig oder falsch waren. Sie waren seine Freunde, und sie hatten ihre Leben für ihn riskiert.
Sie haben mir gezeigt, wie man sich wahrhaft menschlich verhält.
Rolo lächelte. Er dachte daran, was Driftwood ihm dazu zu sagen hätte. Und dann kamen ihm die Tränen. Er weinte um die Alben und um Kotze. Um Hwarf und seinen Onkel Belenus. Um Solomon. Um die toten Neolinga und
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