Der Sommer der Vergessenen: Band 1 von 2 (German Edition)
Heute in der Zukunft meine ich. In Reih und Glied stehen meine Actionfiguren wie zum Abmarsch bereit im Regal.
Bei der Macht von Grayskull, da ist sogar He-Man. Eine Etage tiefer eine Schlumpfkolonie. Daneben ein fluoreszierendes Dinosaurierskelett aus dem Yps-Heft. An den Wänden Poster. Die Ghostbusters. Duran Duran. Wer zum Teufel ist denn Hendrik Martz?
Durch die Wand hinter dem Regal dringt gedämpft das monotone Piepen eines Weckers. Dort liegt das Schlafzimmer meiner Eltern.
Ich werde gleich meiner Mutter begegnen!
Der Gedanke versetzt mir einen Schlag.
Ich habe sie so lange nicht gesehen. Jetzt keinen Fehler machen. Wie ein ungeübter Schauspieler kurz vor dem Auftritt überdenke ich meine Rolle. Wie verhalte ich mich? Wie war er, der dreizehnjährige Nori? Dann erinnere ich mich, dass die Wahrheit viel zu verrückt ist, als dass meine Mutter sie erahnen könnte. Zurück bleibt ein Gefühl wie Weihnachten, kurz vor der Bescherung – nervös, aber hoffnungsvoll.
Jede Tür in diesem Haus macht beim Öffnen ein eigenes, unverwechselbares Geräusch. Jetzt höre ich die Schlafzimmertür meiner Eltern quietschen. Eilige Schritte kommen näher. Ich erwarte, dass meine Mutter klopft, was sie natürlich nicht tut – ich bin ein Kind. Sie platzt herein, und ich stehe da wie ein ertappter Einbrecher, das Diebesgut noch in meinen Händen –
den Flötenschlumpf
.
Meine Mutter ist groß, schlank und blass. Ihr rotes Haar ist ganz durcheinander. Sie trägt einen grünen Morgenmantel. Ich überschlage schnell im Kopf, dass sie etwa Anfang dreißig ist. Ich muss schuldbewusst aussehen, wie ich den Flötenschlumpf verlegen in den Händen drehe, als wäre ich bei etwas Verbotenem erwischt worden. Was ja im Grunde auch stimmt. In diesem überwältigenden Augenblick möchte ich etwas sagen, das meine Gefühle zum Ausdruck bringt, meine unermessliche Freude sie wiederzusehen, aber ohne mich zu verraten. Offenbar sieht sie mir meinen Zwiespalt an, interpretiert ihn jedoch völlig falsch.
„Nicht spielen! Anziehen! Wandertag!“
Und mit einem Knall ist die Tür wieder zu und sie verschwunden.
„Ich hab dich lieb, Mama“, sage ich, als ihre Schritte auf der Treppe verhallt sind, und ich sicher bin, dass sie mich nicht hört.
Die Küche ist kleiner als in meiner Erinnerung. Die Decke ist niedrig, von schiefen Balken getragen. Es ist still. Nur die Uhr an der Wand tickt. Vor dem Fenster liegen Hof und Garten. Inzwischen ist es hell. Wir sitzen zusammen am Küchentisch. Ich baumle mit den Beinen, damit meine nackten Füße nicht den kalten Kachelboden berühren. Meine Mutter liest in der Morgenpost, raucht und nippt gelegentlich an ihrem Kaffee. Ich starre sie über meine Schüssel mit
Frosties
hinweg an wie ein Weltwunder. Es tut so gut, sie wiederzusehen. Ich sehe mich in ihr. Ich habe ihre Mandelaugen. Die hohen Wangenknochen. Wenn ich älter bin, werde ich ihr noch ähnlicher sein. Optisch! Sie hebt den Blick, lächelt mich an, und ich spüre, wie mir die Schamesröte ins Gesicht schießt, weil ich mich ertappt fühle.
„Nori, nicht träumen.“
Pflichtbewusst esse ich. Der Dunst ihrer Zigarette hüllt mich ein, weckt in mir den Wunsch zu rauchen. Aber das ist nur die Gewohnheit. Mein Körper ist noch nicht nikotinabhängig. Mutter steht auf und dreht sich zur Anrichte, wo die Kaffeemaschine steht. Ich werfe einen Blick auf die Zeitung. „London und Philadelphia rüsten sich für Touristenansturm zum größten Musikspektakel aller Zeiten“, lese ich die auf dem Kopf stehende Überschrift. London kommt mir unheimlich weit weg vor. Meine Mutter schaut zur Uhr.
„Jetzt aber mal ab dafür. Zähneputzen. Anziehen.“
Sie klatscht in die Hände, als wäre ich ein Huhn, das es zu verscheuchen gilt.
Ich habe wirklich mit dreizehn noch
Micky Maus-T-Shirts
getragen? Verzweifelt durchwühle ich meinen Schrank nach etwas Tragbarem. Ohne Erfolg. Keine Zeit mehr. Ein graues Sweatshirt? Okay. Eine Jeansjacke? Immerhin. Schwarze
Chucks?
Na läuft doch!
Eilig poltere ich die steile Treppe hinab. Unten erwartet mich meine Mutter. Sie reicht mir meinen Rucksack, nimmt mich in die Arme und wünscht mir viel Spaß. Sie riecht nach
früher
, dass jetzt
heute
ist, und ich muss aufpassen, dass ich nicht heule. Mir wird bewusst, dass ich noch keinen Ton zu ihr gesagt habe, und dass sie es nicht gemerkt hat.
Als ich aus der Haustür trete, erwischt mich die totale Erinnerung. Das seidige Morgenlicht. Das
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