Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Stein - Hohler, F: Stein

Der Stein - Hohler, F: Stein

Titel: Der Stein - Hohler, F: Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
Vom Netzwerk:
Genüge zu tun.
    Nun beschriftet Markus seinen Fund, legt das Zeitungsblatt in die Mappe und vergisst dabei, dass auf der Rückseite der Artikel mit der Heizkennlinie und dem Energiedatenmanagement steht, den er eigentlich aufbewahren wollte, denn gerade hat er das Datum des nächsten Treffens gesehen, das kommende Woche stattfindet.
    Er hat nach einem Aufruf im Internet mit andern zusammen eine Gruppe Pruritus-Betroffener gegründet, das Echo war erstaunlich, fast ein Dutzend Menschen
hatten sich gemeldet, und die versammelten sich nun einmal im Monat, um sich über ihr Leiden und dessen Begleitumstände auszutauschen und über neue Erkenntnisse oder Heilungsmöglichkeiten zu sprechen. Dieser Gruppe gehört seine eigentliche Leidenschaft, und wenn jemand von ihnen von einer neuen Therapie oder einem Forschungsergebnis erzählt, sitzen die andern da und kratzen sich, kratzen sich überall, wo es einen jucken kann, in den Nasenlöchern, an den Augenlidern, in den Ohrmuscheln, am Handrücken, an den Fesseln, am Bauchnabel, am Hintern und an den Genitalien, und die Ausführungen des Erzählenden werden von einem leisen wohligen Stöhnen unterlegt, denn es gehört zu den Regeln der Zusammenkünfte, dass man in der Befriedigung des Juckreizes die Zurückhaltung ablegen darf, der man im normalen Alltag unterworfen ist. Es wird auch viel gelacht in den Sitzungen, wenn die Menschen berichten, welche Tricks sie anwenden, um sich unbemerkt kratzen zu können. Einer hat seine Kontaktlinsen wieder gegen eine Brille eingetauscht, weil er sich durch das kurze Abnehmen und Wiederaufsetzen der Brille, das ihm den Anschein von Nachdenklichkeit gibt, die Möglichkeit verschafft, sich mit den Brillenbügeln im Haaransatz zu kratzen, eine Frau, die es vor allem zwischen den Schulterblättern juckt, hat sich eine große Zahl japanischer Kratzhändchen gekauft, schenkt jedem ihrer Besucher eines und kann sich so im Verlauf einer Einladung immer wieder ungezwungen kratzen, um die Anwendung des Geschenks zu demonstrieren. Der Kreis der Mitglieder
wächst stetig, in ihrem internen Slang nennen sie sich inzwischen »die Pruritaner«.
    Dennoch, für Markus ist es eine ernste Sache. Wenn er jetzt aus einer weiteren Mappe den Artikel hervorholt, den er sich aus dem Internet ausgedruckt hat und in dem Forscher behaupten, der Juckreiz werde nicht, wie bis anhin vermutet, auf derselben Nervenbahn wie der Schmerz transportiert, sondern auf einer gesonderten, dann stützt das seine Überzeugung, dass dem Jucken von der Natur eine Bedeutung zugedacht ist, die wir noch nicht richtig erfasst haben, und dass die Welt erst am Beginn einer Epoche steht, in der sich die Juckpest über den ganzen Planeten verbreiten wird und Milliarden von Menschen vorrangig damit beschäftigt sein werden, sich, bevor sie irgendetwas anderes tun und denken können, zu kratzen, zu kneifen, zu reiben und zu rubbeln, um jenen gigantischen, allgegenwärtigen und unstillbaren Juckreiz zu beschwichtigen, von dem niemand weiß, woher er kommt und was er mit uns vorhat.

DER SENDER
    W as für ein Sturm.
    Zwei Tage hatte es ununterbrochen geschneit, und nun, gegen Abend, hatte sich ein Wind erhoben, der sich heulend von den Felswänden auf das Haus hinunterstürzte, an den Fensterläden rüttelte und dann wieder wimmerte, als zögen hoch oben die armen Seelen über die Krähenflühe.
    »Wie das tut«, sagte Jöri, der auf dem Ruhebett lag und sein geschwollenes Bein auf der Lehne hochgelagert hatte.
    Seine Frau trat mit einem dampfenden Becken zu ihm.
    »Ein Kabiswickel«, sagte sie, »das wird schon helfen.«
    Sie zog Blätter aus dem Wasser, legte sie Jöri auf das Bein, wickelte ein Handtuch darum und band dann alles mit einer elastischen Binde ein.
    Jöri verzog den Mund, murmelte, sauheiß sei dieser Kabis, doch Lina sagte, nur dann wirke er auch, und vielleicht wäre es doch besser gewesen, sie hätten sich heute
mit dem Helikopter auch ausfliegen lassen wie Martin und Vreni und wie der Benz, jetzt seien sie die Einzigen da oben.
    Wenn es so weiterschneie, könne man sie ja morgen mitnehmen, meinte Jöri, er wolle eben einfach keine Umstände machen, gerade jetzt, wo ihm das Gehen so schwerfalle.
    Das wäre erst recht ein Grund zum Ausfliegen, sagte Lina; wenn es ihm schlechter gehe, könne ja nicht einmal ein Arzt kommen.
    Sie solle nicht immer so trübsinnig sein, sagte Jöri, und ob sie ihm nicht etwas Lustiges erzählen könne.
    Lina lächelte. Die vom Lenggenhof seien doch

Weitere Kostenlose Bücher