Der Stein - Hohler, F: Stein
ausgeflogen, schon letzte Woche, weil sie zu nah am Brätterenlauizug seien, und am nächsten Tag sei Oliver, der Zehnjährige, ins Nachbardorf zur Schule gegangen. Als die Lehrerin gesagt habe, die Kinder sollen ihr Mathematikbuch hervornehmen, hatte Oliver keins. Warum er es nicht dabeihabe, fragte die Lehrerin, und weißt du, was Oliver zur Antwort gab? Der Helipilot habe gesagt, sie sollen nur das Nötigste mitnehmen.
Jöri lachte, dann sagten beide eine Weile nichts. Das Heulen des Sturmes wurde tiefer. Es schien vom Tal herauf zu kommen.
»Und wir sind immer noch da«, sagte Lina. »Aber gepackt habe ich schon, wenn sie uns morgen holen.«
»Hast du mein Mathematikbuch dabei?« fragte Jöri.
Lina lachte, dann wurde sie ernst. »Nein, nur das Gebetbuch. «
Wieder sagten sie nichts und horchten hinaus.
Das Heulen schwoll an und ab.
»Stell doch das Radio an«, bat Jöri, »gleich kommt der Wetterbericht.«
Seine Frau ging zur Kommode, auf der neben Hochzeitsfotos in Standrähmchen, einer Petrollampe, einer in Stein eingelassenen Tischuhr mit zwei Gämsen drauf, einer Miniatur der Ottilienkirche im Schwarzwald und einer geschnitzten Mater dolorosa im Strahlenkranz ein Kofferradio stand, über dem, farbig zunächst, dann immer blasser oder bräunlicher, alle die Verwandten und Vorfahren ihrer weitverzweigten Familien an der Wand hingen.
Sie seufzte. »Wo muss ich schon wieder drücken?« fragte sie und begann am Ring zu drehen.
»Den zweitäußersten Knopf rechts«, sagte Jöri ungehalten. »Und drücken, nicht drehen. Sonst müssen wir den Sender wieder suchen.«
Lina drückte den zweitäußersten Knopf, und die Frauenstimme, die jetzt zu hören war, war erstaunlich klar und ungestört; sie kündigte den Wetterbericht an, der von einem Mann verlesen wurde. Er sagte Sturmböen und anhaltende Schneefälle bis in die Niederungen voraus und schloss mit dem Satz:
Mag es toben, mag es stürmen
ist doch Einer, der dich hält
Gütig wird Er dich beschirmen
Er, der Hüter aller Welt.
Jöri und Lina schauten sich an. Sie kannten den Spruch, denn sie hatten ihn an der Wand aufgehängt, vor der die Kommode stand.
Lina schüttelte den Kopf. »Das bedeutet nichts Gutes. «
»So gut wie die Hoch- und Tiefdruckgebiete ist es allemal«, meinte Jöri, obwohl er diese Art von Prognose auch noch nie gehört hatte.
Die beiden stutzten gleich nochmals, als jetzt die Abend-Nachrichten kamen und als deren Sprecher Bartlomé Epp genannt wurde.
Bartlomé Epp war ein verstorbener Onkel von Jöri, er war Pfarrer gewesen, sein Bild hing an der Wand in der Verlängerung des Kofferradios inmitten der Fotogalerie, und die Stimme, die jetzt erklang, war zweifellos die seine, obwohl er schon über dreißig Jahre tot war.
Er möchte den Hörerinnen und Hörern, die ja meistens mit schlechten Nachrichten überschwemmt würden, einmal gute Nachrichten bringen.
»Aber das ist doch … «, sagte Lina.
»Er ist es«, sagte Jöri, richtete sich auf seinem Ruhebett auf und vergaß sein krankes Bein, »es ist Onkel Bartlomé! «
Auch Lina hatte ihn gut in Erinnerung, denn er hatte sie seinerzeit getraut.
Und nun begann dieser mit wohltönender, väterlicher Stimme zu erzählen, dass es all denen, die von uns gegangen seien, gut gehe, denn sie seien geborgen in einer andern Existenz, von der wir nicht einmal ahnten, wie
schwerelos und glückselig sie sei. Und da er nicht allgemein bleiben wolle, möchte er ihnen von Menschenkindern erzählen, die er selber in diesen Gefilden angetroffen habe, Menschenkinder, die vielleicht der eine oder andere der Hörerinnen und Hörer auch gekannt habe.
Seine Schwester Beth etwa, die ja nicht nur seine Schwester gewesen sei, sondern auch Gemeindeschwester im Tal, sei ihm kürzlich entgegengekommen auf einem seiner langen Spaziergänge, die so leicht und körperlos seien, wie man sich das als Erdenkind kaum vorstellen könne, und habe ihm zugeflüstert –
»Tante Beth …«, sagte Jöri, »Tante Beth – ist das möglich? «
»Tante Beth«, sagte Lina, »die starb ja kurz nach ihm, an einer Lungenentzündung, von der Nachtwache im eiskalten Haus vom alten Oski – «
»Still!« zischte Jöri, und nun erzählte ihnen Onkel Bartlomé, wie ihm Schwester Beth von der großen Ruhe im Licht und von der Schönheit geschwärmt habe und wie anrührend es sei, Seelen zu begegnen, die man gepflegt und vielleicht sogar getröstet habe, und wie auch ihre Mutter Wilhelmine –
»Die Großmutter«, flüsterte
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