Der Steppenwolf
dem Kopf, mit einer blauen Bluse angetan, über die Schulter trug er eine Stange mit einem Plakat, vor dem Bauch trug er am Riemen eine offene Lade, wie sie die Verkäufer an Jahrmärkten tragen. Müde schritt er vor mirher, sah sich nicht nach mir um, sonst hätte ich ihn gegrüßt und ihm eine Zigarre geschenkt. Im Licht der nächsten Laterne versuchte ich seine Standarte zu lesen, sein rotes Plakat an der Stange, aber es schwankte hin und her, ich konnte nichts entziffern. Da rief ich ihn an und bat ihn, mir das Plakat zu zeigen. Er blieb stehen und hielt seine Stange etwas gerader, da konnte ich tanzende, taumelnde Buchstaben lesen:
Anarchistische Abendunterhaltung!
Magisches Theater!
Eintritt nicht für jed . . .
»Sie habe ich ja gesucht«, rief ich freudig. »Was ist das mit Ihrer Abendunterhaltung? Wo ist sie? Wann?«
Er lief schon wieder.
»Nicht für jedermann«, sagte er gleichgültig, mit schläfriger Stimme, und lief. Er hatte genug, er wollte heim.
»Halt«, rief ich und lief ihm nach. »Was haben Sie da in Ihrem Kasten? Ich will Ihnen etwas abkaufen.«
Ohne anzuhalten, griff der Mann in seinen Kasten, mechanisch, zog ein kleines Büchlein heraus und hielt es mir hin. Ich nahm es schnell und steckte es ein. Während ich an meinem Mantel knöpfte und Geld hervorsuchen wollte, bog er seitwärts in einen Torweg, zog das Tor hinter sich zu und war verschwunden. Im Hof klangen seine schweren Schritte, auf Steinpflaster erst, dann auf einer hölzernen Treppe, dann hörte ich nichts mehr. Und plötzlich war auch ich sehr müde und hatte das Gefühl, es sei sehr spät und es sei gut, jetzt heimzukommen. Ich lief rascher und war bald durch die schlafende Vorstadtgasse in meine Gegend zwischen den Wallanlagen gelangt, wo in kleinen saubern Mietshäusern hinter etwas Rasen und Efeu die Beamten und kleinen Rentner wohnen. Am Efeu, am Rasen, an der kleinen Tanne vorbei erreichte ich die Haustür, fand das Schlüsselloch, fand den Drücker für das Licht, schlich an den Glastüren, an den polierten Schränken und Topfpflanzen vorüber und schloß meine Stube auf, meine kleine Scheinheimat, wo der Lehnstuhl und der Ofen, das Tintenfaß und die Malschachtel, der Novalis und der Dostojewski auf mich warteten, so, wie auf andere, aufrichtige Menschen, wenn sie heimkommen, die Mutter oder Frau, die Kinder, die Mägde, die Hunde, die Katzen warten.
Als ich den nassen Mantel auszog, fiel das kleine Buch mir wieder in die Hände. Ich zog es heraus, es war ein dünnes, schlecht auf schlechtem Papier gedrucktes Jahrmarktsbüchlein, so wie jene Hefte »Der Mensch im Januar geboren« oder »Wie werde ich in acht Tagen um zwanzig Jahre jünger?«
Aber als ich mich in den Lehnstuhl genistet und die Lesebrille aufgesetzt hatte, las ich mit Verwunderung und plötzlich aufschießendem Schicksalsgefühl auf dem Umschlag dieses Jahrmarktheftes den Titel: »Traktat vom Steppenwolf. Nicht für jedermann.«
Und folgendes war der Inhalt der Schrift, die ich mit stets wachsender Spannung in einem Zuge las:
Tractat vom Steppenwolf
Nur für Verrückte
Es war einmal einer namens Harry, genannt der Steppenwolf. Er ging auf zwei Beinen, trug Kleider und war ein Mensch, aber eigentlich war er doch eben ein Steppenwolf. Er hatte vieles von dem gelernt, was Menschen mit gutem Verstande lernen können, und war ein ziemlich kluger Mann. Was er aber nicht gelernt hatte, war dies: mit sich und seinem Leben zufrieden zu sein. Dies konnte er nicht, er war ein unzufriedener Mensch. Das kam wahrscheinlich daher, daß er im Grunde seines Herzens jederzeit wußte (oder zu wissen glaubte), daß er eigentlich gar kein Mensch, sondern ein Wolf aus der Steppe sei. Es mögen sich kluge Menschen darüber streiten, ob er nun wirklich ein Wolf war, ob er einmal, vielleicht schon vor seiner Geburt, aus einem Wolf in einen Menschen verzaubert worden war oder ob er als Mensch geboren, aber mit der Seele eines Steppenwolfes begabt und von ihr besessen war oder aber ob dieser Glaube, daß er eigentlich ein Wolf sei, bloß eine Einbildung oder Krankheit von ihm war. Zum Beispiel wäre es ja möglich, daß dieser Mensch etwa in seiner Kindheit wild und unbändig und unordentlich war, daß seine Erzieher versucht hatten, die Bestie in ihm totzukriegen, und ihm gerade dadurch die Einbildung und den Glauben schufen, daß er in der Tat eigentlich eine Bestie sei, nur mit einem dünnen Überzug von Erziehung und Menschentum darüber. Man könnte hierüber lang
Weitere Kostenlose Bücher