Der Steppenwolf
unter den Schullehrern berühmten, vom Philister mit Schauer bewunderten Spruch sagt: »Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust!«, dann vergißt er den Mephisto und eine ganze Menge andrer Seelen, die er ebenfalls in seiner Brust hat. Auch unser Steppenwolf glaubt ja, zwei Seelen (Wolf und Mensch) in seiner Brust zu tragen und findet seine Brust dadurch schon arg beengt. Die Brust, der Leib, ist eben immer eines, der darin wohnenden Seelen aber sind nicht zwei, oder fünf, sondern unzählige; der Mensch ist eine aus hundert Schalen bestehende Zwiebel, ein aus vielen Fäden bestehendes Gewebe. Erkannt und genau gewußt haben dies die alten Asiaten, und im buddhistischen Yoga ist eine genaue Technik dafür erfunden, den Wahn der Persönlichkeit zu entlarven. Lustig und vielfältig ist das Spiel der Menschheit: der Wahn, zu dessen Entlarvung Indien tausend Jahre lang sich so sehr angestrengt hat, ist derselbe, zu dessen Stützung und Stärkung der Okzident sich ebenso viele Mühe gegeben hat.
Betrachten wir von diesem Standpunkt aus den Steppenwolf, so wird uns klar, warum er so sehr unter seiner lächerlichen Zweiheit leidet. Er glaubt, wie Faust, daß zwei Seelen für eine einzige Brust schon zuviel seien und die Brust zerreißen müßten. Sie sind aber im Gegenteil viel zu wenig, und Harry vergewaltigt seine arme Seele furchtbar, wenn er sie in einem so primitiven Bilde zu begreifen sucht. Harry verfährt, obwohl er ein hochgebildeter Mensch ist, etwa wie ein Wilder, der nicht über zwei hinaus zählen kann. Er nennt ein Stück von sich Mensch, ein andres Wolf, und damit glaubt er schon am Ende zu sein und sich erschöpft zu haben. In den »Menschen« packt er alles Geistige, Sublimierte oder doch Kultivierte hinein, das er in sich vorfindet, und in den Wolf alles Triebhafte, Wilde und Chaotische. Aber so simpel wie in unsern Gedanken, so grob wie in unsrer armen Idiotensprache geht es im Leben nicht zu, und Harry belügt sich doppelt, wenn er diese negerhafte Wolfsmethode anwendet. Harry rechnet, so fürchten wir, ganze Provinzen seiner Seele schon zum »Menschen«, die noch lange nicht Mensch sind, und rechnet Teile seines Wesens zum Wolfe, die längst über den Wolf hinaus sind.
Wie alle Menschen, so glaubt auch Harry recht wohl zu wissen, was der Mensch sei, und weiß es doch durchaus nicht, obschon er es, in Träumen und anderen schwer kontrollierbaren Bewußtseinszuständen, nicht selten ahnt. Möchte er diese Ahnungen nicht vergessen, möchte er sie sich doch möglichst zu eigen machen! Der Mensch ist ja keine feste und dauernde Gestaltung (dies war, trotz entgegengesetzter Ahnungen ihrer Weisen, das Ideal der Antike), er ist vielmehr ein Versuch und Übergang, er ist nichts andres als die schmale, gefährliche Brücke zwischen Natur und Geist. Nach dem Geiste hin, zu Gott hin treibt ihn die innerste Bestimmung – nach der Natur, zur Mutter zurück zieht ihn die innigste Sehnsucht: zwischen beiden Mächten schwankt angstvoll bebend sein Leben. Was die Menschen jeweils unter dem Begriff »Mensch« verstehen, ist stets nur eine vergängliche bürgerliche Übereinkunft. Gewisse roheste Triebe werden von dieser Konvention abgelehnt und verpönt, ein Stück Bewußtsein, Gesittung und Entbestialisierung wird verlangt, ein klein wenig Geist ist nicht nur erlaubt, sondern wird sogar gefordert. Der »Mensch« dieser Konvention ist, wie jedes Bürgerideal, ein Kompromiß, ein schüchterner und naivschlauer Versuch, sowohl die böse Urmutter Natur wie den lästigen Urvater Geist um ihre heftigen Forderungen zu prellen und in lauer Mitte zwischen ihnen zu wohnen. Darum erlaubt und duldet der Bürger das, was er »Persönlichkeit« nennt, liefert die Persönlichkeit aber gleichzeitig jenem Moloch »Staat« aus und spielt beständig die beiden gegeneinander aus. Darum verbrennt der Bürger heute den als Ketzer, hängt den als Verbrecher, dem er übermorgen Denkmäler setzt.
Daß der »Mensch« nicht schon Erschaffenes sei, sondern eine Forderung des Geistes, eine ferne, ebenso ersehnte wie gefürchtete Möglichkeit, und daß der Weg dahin immer nur ein kleines Stückchen weit und unter furchtbaren Qualen und Ekstasen zurückgelegt wird, eben von jenen seltenen Einzelnen, denen heute das Schafott, morgen das Ehrendenkmal bereitet wird – dies Ahnen lebt auch im Steppenwolf. Was er aber, im Gegensatz zu seinem »Wolf«, in sich »Mensch« nennt, das ist zum großen Teil nichts andres als eben jener mediokre »Mensch«
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