Der Steppenwolf
auseinandergehen, so daß es keinen Steppenwolf mehr gäbe, oder sie würden unter dem aufgehenden Licht des Humors eine Vernunftehe schließen.
Möglich, daß Harry eines Tages vor diese letzte Möglichkeit geführt wird. Möglich, daß er eines Tages sich erkennen lernt, sei es, daß er einen unsrer kleinen Spiegel in die Hand bekomme, sei es, daß er den Unsterblichen begegne oder vielleicht in einem unsrer magischen Theater dasjenige finde, dessen er zur Befreiung seiner verwahrlosten Seele bedarf. Tausend solche Möglichkeiten warten auf ihn, sein Schicksal zieht sie unwiderstehlich an, alle diese Außenseiter des Bürgertums leben in der Atmosphäre die sermagischen Möglichkeiten. Ein Nichts genügt, und der Blitz schlägt ein.
Und dies alles ist dem Steppenwolf, auch wenn er niemals diesen Abriß seiner innern Biographie zu Gesicht bekommt, sehr wohl bekannt. Er ahnt seine Stellung im Weltgebäude, er ahnt und kennt die Unsterblichen, er ahnt und fürchtet die Möglichkeit einer Selbstbegegnung, er weiß vom Vorhandensein jenes Spiegels, in den zu blicken er so bitter nötig hätte, in den zu blicken er sich so tödlich fürchtet.
Zum Schluß unsrer Studie bleibt noch eine letzte Fiktion, eine grundsätzliche Täuschung aufzulösen. Alle »Erklärungen«, alle Psychologie, alle Versuche des Verstehens bedürfen ja der Hilfsmittel, der Theorien, der Mythologien, der Lügen; und ein anständiger Autor sollte es nicht unterlassen, am Schluß einer Darstellung diese Lügen nach Möglichkeit aufzulösen. Wenn ich sage »Oben« oder »Unten«, so ist das ja schon eine Behauptung, welche Erklärung fordert, denn ein Oben und Unten gibt es nur im Denken, nur in der Abstraktion. Die Welt selbst kennt kein Oben noch Unten.
So ist denn auch, um es kurz zu sagen, der »Steppenwolf« eine Fiktion. Wenn Harry sich selbst als Wolfsmenschen empfindet und aus zwei feindlichen und gegensätzlichen Wesen zu bestehen meint, so ist das lediglich eine vereinfachende Mythologie. Harry ist gar kein Wolfsmensch, und wenn wir seine, von ihm selbst erfundene und geglaubte Lüge scheinbar unbesehen mit übernahmen und ihn tatsächlich als Doppelwesen, als Steppenwolf zu betrachten und zu deuten suchten, so machten wir uns in der Hoffnung auf leichteres Verstandenwerden eine Täuschung zunutze, deren Richtigstellung jetzt versucht werden soll.
Die Zweiteilung in Wolf und Mensch, in Trieb und Geist, durch welche Harry sich sein Schicksal verständlicher zu machen sucht, ist eine sehr grobe Vereinfachung, eine Vergewaltigung des Wirklichen zugunsten einer plausiblen, aber irrigen Erklärung der Widersprüche, welche dieser Mensch in sich vorfindet und die ihm die Quelle seiner nicht geringen Leiden zu sein scheinen. Harry findet in sich einen »Menschen«, das heißt eine Welt von Gedanken, Gefühlen, von Kultur, von gezähmter und sublimierter Natur, und er findet daneben in sich auch noch einen »Wolf«, das heißt eine dunkle Welt von Trieben, von Wildheit, Grausamkeit, von nicht sublimierter, roher Natur. Trotz dieser scheinbar so klaren Einteilung seines Wesens in zwei Sphären, die einander feindlich sind, hat er es aber je und je erlebt, daß Wolf und Mensch sich für eine Weile, für einen glücklichen Augenblick miteinander vertrugen. Wollte Harry in jedem einzelnen Moment seines Lebens, in jeder seiner Taten, in jeder seiner Empfindungen festzustellen versuchen, welchen Anteil daran der Mensch, welchen Anteil der Wolf habe, so käme er sofort in die Klemme, und seine ganze hübsche Wolftheorie ginge in die Brüche. Denn kein einziger Mensch, auch nicht der primitive Neger, auch nicht der Idiot, ist so angenehm einfach, daß sein Wesen sich als die Summe von nur zweien oder dreien Hauptelementen erklären ließe; und gar einen so sehr differenzierten Menschen wie Harry mit der naiven Einteilung in Wolf und Mensch zu erklären, ist ein hoffnungslos kindlicher Versuch. Harry besteht nicht aus zwei Wesen, sondern aus hundert, aus tausenden. Sein Leben schwingt (wie jedes Menschen Leben) nicht bloß zwischen zwei Polen, etwa dem Trieb und dem Geist, oder dem Heiligen und dem Wüstling, sondern es schwingt zwischen tausenden, zwischen unzählbaren Polpaaren.
Daß ein so unterrichteter und kluger Mensch wie Harry sich für einen »Steppenwolf« halten kann, daß er das reiche und komplizierte Gebilde seines Lebens in einer so schlichten, so brutalen, so primitiven Formel glaubt unterbringen zu können, darf uns nicht in
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