Bastard
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In der Umkleidekabine für Mitarbeiterinnen werfe ich meinen schmutzigen OP-Anzug in den Eimer für kontaminierte Wäsche und ziehe meine restlichen Sachen und die Arztpantoffeln aus. Dabei frage ich mich, ob das Namensschild Colonel Scarpetta an meinem Spind wohl entfernt werden wird, sobald ich morgen früh nach Neuengland zurückgekehrt bin. Dieser Gedanke gefällt mir gar nicht. Denn eigentlich will ich nicht weg von hier.
Trotz der harten Ausbildung und der traurigen Tatsache, dass ich im Auftrag der amerikanischen Regierung täglich mit dem Tod zu tun hatte, hat das Leben auf dem Luftwaffenstützpunkt Dover auch seine Vorteile. Mein Aufenthalt ist erstaunlich ereignislos, ja sogar angenehm verlaufen. Ich werde es vermissen, vor Morgengrauen in meinem spartanisch eingerichteten Zimmer aufzustehen, in eine Cargohose, ein Polohemd und Stiefel zu schlüpfen und durch Dunkelheit und Kälte quer über den Parkplatz zum Clubhaus am Golfplatz zu gehen, einen Kaffee zu trinken und etwas zu essen und anschließend mit dem Auto in ein Rechtsmedizinisches Institut zu fahren, in dem ich nichts zu sagen habe. Solange ich für den Armed Forces Medical Examiner (AFME), den obersten Rechtsmediziner der Streitkräfte, tätig bin, übe ich keine Leitungsfunktion aus. Eine ganze Reihe von Leuten steht in der Hierarchie über mir, weshalb ich nicht befugt bin, Entscheidungen von größerer Tragweite zu fällen, vorausgesetzt, ich werde überhaupt gefragt. Ein himmelweiter Unterschied zu Massachusetts, wo sich alle auf mich verlassen.
Es ist Montag, der 8. Februar. Die Wanduhr über den blitzblanken weißen Waschbecken zeigt 16:33. Die Zahl blinkt rot
wie ein Warnsignal. In knapp neunzig Minuten soll ich bei CNN vor der Kamera stehen, um zu erklären, was ein forensischer Pathologieradiologe ist, warum ich mich dazu habe ausbilden lassen und welche Rolle der Luftwaffenstützpunkt in Dover, das Verteidigungsministerium und das Weiße Haus dabei spielen. Ich bin inzwischen eine Mischung aus Rechtsmedizinerin und Reservistin beim AFME. Seit den Anschlägen vom 11. September, dem amerikanischen Einmarsch im Irak und dem Truppeneinsatz in Afghanistan – um mich für die Sendung vorzubereiten, gehe ich in Gedanken die einzelnen Punkte durch, die ich nicht vergessen darf – ist die Grenze zwischen dem militärischen und zivilen Bereich wohl für immer durchlässig geworden. Nur eines der Beispiele, die ich vielleicht anführen werde: Im letzten November wurden innerhalb von achtundvierzig Stunden dreizehn gefallene Soldaten aus dem Nahen Osten eingeflogen. Ebenso viele Tote wurden aus Fort Hood, Texas, hergebracht. Das Massensterben beschränkt sich also nicht mehr nur auf das eigentliche Schlachtfeld. Das Schlachtfeld kann überall sein: unser Zuhause, unsere Schulen, unsere Kirchen und Passagiermaschinen, die Orte, wo wir arbeiten, einkaufen und Urlaub machen.
Ich krame in meinem Kosmetikkoffer und sortiere dabei noch einmal im Kopf meine Anmerkungen zu Themen wie 3D-bildgebende Radiologie, Magnetresonanztomographie und Computertomographie im Autopsiesaal. Außerdem darf ich nicht versäumen, zu betonen, dass mein neues Institut in Cambridge, Massachusetts, zwar als erste zivile Einrichtung in den Vereinigten Staaten virtuelle Autopsien durchführt, Baltimore jedoch als Nächstes folgen wird – ein Trend der Zukunft also. Die traditionelle Obduktion, bei der man munter drauflosschneidet, anschließend fotografiert und hofft, dass man weder etwas vergessen noch selbst Spuren hinterlassen
hat, wird dank entsprechender moderner Technologien erheblich effizienter und genauer werden. Und genau so sollte es auch sein.
Ich bedaure, dass ich heute Abend nicht in World News auftreten werde, denn eigentlich würde ich dieses Gespräch lieber mit Diane Sawyer führen. Dass ich so häufig bei CNN zu sehen bin, bringt nämlich ein Problem mit sich: Wer zu bekannt ist, wird oft nicht mehr ernst genommen. Daran hätte ich früher denken müssen. Das Interview könnte, wie mir plötzlich einfällt, ins Persönliche abgleiten, eine Gefahr, die ich gegenüber General Briggs hätte erwähnen sollen. Ebenso den Zwischenfall am heutigen Vormittag, als die aufgebrachte Mutter eines toten Soldaten mich am Telefon beschimpft, mich der Diskriminierung beschuldigt und gedroht hat, sich mit ihren Beschwerden über mich an die Medien zu wenden.
Metall auf Metall, es knallt wie ein Schuss, als ich die Tür meines Spinds schließe. In der Hand einen
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