Der stille Sammler
der gleiche Täter, weil er eine ganz charakteristische Vorgehensweise hatte. Er schnitt seinen Opfern die Achillessehnen durch, um sie am Entkommen zu hindern, vergewaltigte sie (mit Kondom, keine DNA ), erwürgte sie langsam und schnitt ihnen post mortem das rechte Ohr ab – als Souvenir, das ihm beim späteren Nacherleben der Geschichte half.
Anschließend entledigte er sich an einer anderen Straße und in einer anderen Nacht der Leiche, manchmal nur ein kleines Stück, manchmal mehr als hundertfünfzig Kilometer von der mutmaßlichen Stelle entfernt, wo er sich das Mädchen geschnappt hatte, und stets so, dass wir die Leiche finden mussten. Einige dieser Details verschwiegen wir den Medien, um Nachahmer oder ein falsches Geständnis erkennen zu können, falls jemand für die Sünden eines anderen büßen oder den zweifelhaften Ruhm des Täters einheimsen wollte, ohne dessen blutige Arbeit zu verrichten.
Tatsächlich hatte es ein paar Nachahmer und falsche Bekenner gegeben. Sie hatten einen großen Teil der Fakten gekannt, aber nicht alle. Deshalb hatte ich Max die vielen Fragen über Lynch gestellt. Kein anderer hatte uns vorher etwas von den abgeschnittenen Ohren erzählt.
Der Wagen, den der Killer benutzt hatte, war jedes Mal unter einem anderen Namen gemietet und weit weg vom Leichnam stehen gelassen worden. Am Blut auf der Beifahrerseite und auf den Rücksitzen konnte man in sämtlichen Fällen erkennen, dass das Fahrzeug der primäre Tatort gewesen war, wo der Killer dem Opfer die Sehnen durchtrennt, es vergewaltigt, ermordet und ihm das Ohr abgeschnitten hatte.
Der Fall wurde zur Besessenheit für mich, wie häufig bei Serienmorden. Nach dem zweiten Mord konnte ich kaum noch an etwas anderes denken, und jedes Jahr erwartete ich den Sommer mit einer Mischung aus Angst, dass dieser Irre ein weiteres Opfer fand, und Hoffnung, dass er endlich gefasst wurde.
Man kann so viel über professionelle Distanziertheit reden, wie man will – man wird nie richtig begreifen, was Besessenheit ist, solange es nicht einen der eigenen Leute erwischt. Der Tod ist immer etwas Abstraktes, bis es jemanden trifft, den man gekannt hat.
Zusätzlich zu dem steifen Rücken, der meine Undercover-Karriere beendet hatte, war ich damals zu alt gewesen, um eine überzeugende Anhalterin abzugeben. Doch Jessica, frisch von der Academy und so klein wie ich, konnte als vierzehnjährige Ausreißerin durchgehen. Ich bildete sie höchstpersönlich aus, unterstützt von David Weiss, dem Profiler. Jessica lernte von uns, wie man einen potenziellen Vergewaltiger erkennt und sich gegen ihn verteidigt.
In jenem Sommer redete ich mir ein, dass sie bereit sei, mit den bösen Jungs fertig zu werden. Hatte ich sie überschätzt? Oder war ich so besessen von dem Gedanken, den Route-66-Killer zu schnappen, dass ich darüber ihre Sicherheit vergaß?
Jedenfalls bezahlte Jessica meinen Irrtum mit dem Leben.
*
Absurderweise überraschte ich mich am nächsten Morgen im Badezimmer damit, dass ich Lippenstift auftrug.
Ich hatte Carlo erzählt, ich würde auf Max’ Einladung hin einen Ausflug machen. Als um halb sieben in der Frühe drei offiziell aussehende Regierungsfahrzeuge vor unserem Haus hielten, musterte Carlo mich verständlicherweise mit fragenden Blicken.
Ich nahm meinen Wanderstock und meine Südwester-Umhängetasche, die groß genug war, um einen Mexikaner darin über die Grenze zu schmuggeln, wenngleich sie in der Regel dazu diente, Wasserflaschen zu transportieren. Dann gab ich Carlo ein Küsschen und ging die Auffahrt hinunter, um meine ehemaligen Kollegen zu begrüßen.
Auf der Beifahrerseite des mittleren Wagens, einem Geländefahrzeug, stieg eine groß gewachsene junge Frau aus und entfaltete sich wie eine Gottesanbeterin. Trotz der jetzt schon sengenden Sonne trug sie den dunklen Standardanzug des FBI und stellte sich mit festem Händedruck und einem Blick vor, der einem den Eindruck vermittelt, dass sie irgendetwas weiß, von dem man selbst noch keine Ahnung hat.
»Ich bin Agent Laura Coleman und für den Fall zuständig«, sagte sie. »Sehr erfreut, Sie wieder bei uns zu sehen, Agent Quinn.« Es war nett von ihr, mich Agent zu nennen, obwohl ich ausgemustert worden war. Während ich ihren Gruß erwiderte, betrachtete sie meinen Wanderstock. Dann zog sie ihr Jackett aus, wahrscheinlich, weil ich mich für legere Kleidung entschieden hatte – helle Khakihose und eine kurzärmelige Baumwollbluse – und weil die Temperatur
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