Der Strandlaeufer
durch ein Fernglas mit geringer Vergrößerung. Sein Blickfeld ist entsprechend größer, ebenso die Lichtstärke, und die durch Verwacklung bedingten Unschärfen sind gering.
Nachmittags ab fünf Uhr saß Celli in einem der drei Fischläden des Ortes zwischen weißen Kästen aus Plastik, in denen Muscheln, Fische, Garnelen, Langusten und Calamari auf Käufer warteten. Er sah selber aus wie eine große Brasse, mit seiner dicken Lesebrille, die an einer Schnur um seinen Hals hing und die er aufsetzte, wenn er Fische ausnahm, so dass sie immer von Fischblut und Schuppen verschmiert war. Wenn kein Käufer im Laden war, putzte er die Brillengläser sorgfältig und griff nach einem Buch.
Spätabends nach Geschäftsschluss ging Celli gewöhnlich in ein Cafee, aß ein paar Sandwiches und trank anschließend einen Espresso. Dann begab er sich zum Hafen und machte sein Boot klar. Er tuckerte mit seinem alten Diesel hinaus aufs Meer und schaltete den großen Fangscheinwerfer ein, um Fische ins Netz zu locken. Beim Licht der starken Lampe las er weiter.
Hin und wieder lieh ich mir aus Cellis unerschöpflicher Bibliothek ein Buch aus. Für seine Qualität gab es ein simples Merkmal: Je besser das Buch, umso mehr Fischschuppen fanden sich darin. Von Celli erfuhr ich, dass ich im Ort inzwischen einen Spitznamen hatte, genau genommen deren drei. Einige nannten mich wegen meines roten Bartes Barbarossa, andere wegen meiner ungekämmten, strohfarbenen Haare Zingaro, die meisten aber nannten mich Sarazeno.
Luigi war Misanthrop, Franco Philanthrop. Beide waren sie Fundamentalisten und für keinerlei Gegeneinwände zu haben. Es war nur natürlich, dass sie sich nicht besonders mochten und sich aus dem Wege gingen. Doch die Gorillabar war auch Luigis Stammlokal, und so kam es, dass ich sie zuweilen gemeinsam erlebte, der eine meistens am Tresen stehend, der andere in irgendeiner Ecke sitzend und lesend. Da sie mir beide gefielen, versuchte ich mehrfach, sie einzuladen und an meinen Tisch zu bekommen.
Als es mir endlich gelang und sie schweigend neben mir saßen, bemühte ich mich, sie in eine Diskussion zu verwickeln. »Findet ihr nicht, dass es hier im Sommer ungewöhnlich schöne Menschen am Strand zu sehen gibt?«, sagte ich.
»Alle Menschen sind hässlich«, fauchte Luigi, »weil sie den Fehler begangen haben, aufrecht zu gehen. Guck sie dir an. Sie verschandeln die Natur mit ihren Leibern. Wie schön sind selbst Seeelefanten dagegen. Sie sind zwar auch fett, aber was für ein Unterschied! Die Bewegungen der Aufrechtgeher sind unerträglich. Man vergleiche damit die Bewegungen einer Katze, ganz zu schweigen von denen eines Fisches!«
Franco Celli rührte seinen Kaffee um. »Der aufrechte Gang hat in die Weltgeschichte überhaupt erst so etwas wie Moral und Geist gebracht«, sagte er ruhig. »Die Geschichte des homo sapiens beginnt mit dem homo erectus. Tiere haben keine Moral und keinen Geist. Sie denken nur ans Fressen und an die Vermehrung. Das liegt daran, dass sich ihr After und ihre Geschlechtsteile in Kopfhöhe befinden.«
»Haha, dass ich nicht lache!«, zeterte Luigi. »Bist du denn sicher, dass sich dein Hirn nicht auch in Höhe deines Arsches befindet? Geh einmal wie ich jeden Tag am Strand entlang und du wirst die erstaunliche Entdeckung machen, dass die Menschen auch an nichts anderes denken als an Fressen und Vermehrung. In ihrem Zusammenhang von homo sapiens zu sprechen ist ein Witz. Ich sage daher noch einmal und auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, die Menschen sind hässlich und widerlich, von zwei Ausnahmen vielleicht abgesehen.«
Er machte eine theatralische Pause und lehnte sich zufrieden zurück. Dann winkte er der Kellnerin. »Kannst du bitte veranlassen, dass ihr die Musik etwas leiser stellt? Und bring diesem Fischer noch einen Kaffee und ein Glas Roten. Und dem hier«, er deutete auf mich, »bringst du einen Roten und einen Grappa. Er hat einen schwachen Magen, weil er ein Poeta ist. Das sind Leute, die mit ihrer Gastritis Geschäfte machen.« Wir warteten, bis die Getränke gebracht wurden.
Dann fuhr Luigi fort: »Der Mensch als solcher ist in seinem Leben nur zweimal schön. Und zwar eine Woche lang nach seiner Geburt und eine Woche vor seinem Tod. Dazwischen gibt es ausschließlich pure Hässlichkeit.«
Franco Celli hatte bisher geschwiegen und seine Brille geputzt. Jetzt lächelte er weise und sagte: »Deine Predigt wider das Leben, mein Lieber, ist in Wahrheit ein ehrenwerter und uralter,
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