Der Strandlaeufer
Kind. Carla. Die Mutter überlebte die Geburt nicht. Und auch diesmal gelang es nicht, den Vater zu ermitteln. Vermutlich war es einer ihrer Kunden. Marias Verwandte haben Carla dann zu sich genommen.«
Ich sah Carla immer noch vor mir. Ihren Schatten vor dem Fenster. Um mich von diesem Bild zu lösen, wandte ich mich von neuem dem Rostklumpen zu, den ich immer noch in der Hand hielt.
»Zu welcher Tür oder Seekiste mag er wohl gehört haben?«
»Jetzt passt er jedenfalls nur noch in das Schloss deiner Phantasie, falls es vorhanden ist.«
Ich nahm noch einen Schluck Meereswein. »Kannst du von deiner Arbeit eigentlich leben?«
Er nickte. »Es gibt gute und schlechte Tage. Im Sommer ist es natürlich besser für den Geldbeutel. Da vergessen die Leute sogar Armbanduhren und Ringe. Aber meistens sind es nur die Pfandflaschen, die ein bisschen Geld einbringen.«
Ich legte den Rostklumpen beiseite und nahm den Gegenstand, der einmal ein Telefonhörer gewesen war.
»Weißt du was, Luigi? Ich würde am liebsten mit Hilfe dieses Dings mit meinem Großonkel John telefonieren. Seine Knochen liegen irgendwo am Grunde des Meeres.«
»Er würde nicht abheben, mein Lieber, weil du sowieso nicht verstehen würdest, was er zu sagen hat.«
Ich bat Luigi, mir Unterricht im Strandlaufen zu geben. Er war nicht begeistert von der Idee. »Wir haben schon genug Konkurrenz«, sagte er. »Die Schlimmsten sind die von der Müllabfuhr. Sie sind völlig unsensibel, fahren mit Raupenschleppern den Strand entlang und machen alles kaputt. Gott sei Dank sind sie nur in der Hauptsaison aktiv. Nicht viel besser sind die Touristen. Sie suchen den Strand nach Muscheln ab und zertrampeln dabei die Kunstschätze des Meeres.«
»Ich werde dir keine Konkurrenz machen, Luigi. Alles, was irgendeinen Wert für dich hat, gebe ich dir. Ich will nur lernen, wie man sucht.«
»Du hast Recht, das ist auch eine Kunst. Du musst einen besonderen Gang haben und einen besonderen Blick. Gut, ich zeige es dir. Komm morgen vor sieben Uhr zum blauen Boot, das beim letzten Sturm angespült worden ist. Du wirst es nicht verfehlen.«
Am nächsten Morgen ging ich zum verabredeten Treffpunkt. Luigi saß auf dem umgedrehten Rumpf eines Ruderbootes und erklärte mit Professorenstimme: »Es gibt zwei günstige Zeiten am Tag. Die Stunde nach Sonnenaufgang, wenn die Strandzone am Wasser noch jungfräulich ist. Du erntest, was das nächtliche Meer gesät hat. Und dann die Stunde vor Sonnenuntergang. Du läufst ein Stück weiter oben am Strand und findest, was die Badegäste verloren haben. Dieser Gang ist oft der lukrativere, jedenfalls im Sommer. Aber der Morgengang ist besser für die Kunst. Wir kommen nun zum Gehen. Du musst schnell sein, damit du viel Gelände abläufst. Aber nicht zu schnell, sonst entgeht dir das meiste. Jeder Strandläufer hat seinen eigenen Stil. Du erkennst ihn schon von weitem. Manche laufen krumm, manche im Zickzack. Ich habe für mich herausgefunden, dass das Schwanken des Betrunkenen am besten ist. Ich mache es dir vor.«
Er schwankte über den nassen Sand an der Wellenkante entlang, als habe er zu viel Alkohol im Blut. »Sei ganz entspannt«, rief er. »Das Schwanken ergibt sich von selbst aus den Unebenheiten.«
Er kam zurück und setzte sich wieder auf das Boot. »Und nun der Blick. Versuche bloß nicht, wie verrückt vor deine Füße zu starren, in der Hoffnung, etwas zu finden. Schau vielmehr unkonzentriert, wahllos schweifend, wie jemand, der in Gedanken ist und seine Augen mit nichts beauftragt hat. Du sollst ja gerade erkennen, was du dir vorher nicht vorgestellt hast. Dieser schweifende, sozusagen aufmerksam ungenaue Blick ist schwer zu erlernen. Versuche es, indem du vor dich hinträumst. Ich habe mir sagen lassen, dass ein guter Pilzsucher einen ähnlichen Blick hat. Auch Astronomen finden auf diese Weise zuweilen unbekannte Himmelskörper. Und gute Frauen entdeckt man auf die gleiche Manier. Starr sie bloß nie direkt an, sondern sieh an ihnen leicht vorbei. Nun machen wir die erste praktische Übung. Ich gehe nach Norden, du nach Süden. Jeder ungefähr einen Kilometer, und dann treffen wir uns wieder hier und vergleichen unseren Fang.«
Ich versuchte, so effektiv zu schwanken und so konzentriert unkonzentriert zu blicken, wie es ging. Ich fand ein paar Sachen und steckte sie in die Plastiktüte, die mir Luigi in die Hand gedrückt hatte. Das Ergebnis war niederschmetternd für mich. Ich hatte ein paar ganz hübsche
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