Liebe auf den letzten Blick
1
»Ach, komm schon, Mathilde! Es geht doch um
zwei
wichtige Anlässe.«
Irma flötet so süßlich, als wollte sie mir einen neuen Haarschnitt aufschwatzen. Wozu sie mich nicht überreden müsste. Meine beste Freundin ist seit vielen Jahren die Friseurin meines Vertrauens und außerdem eine bekannte Starstylistin. Für ihre Vorschläge wäre ich also jederzeit offen. Doch im Moment geht es nicht darum, mein kinnlanges brünettes Haar aufzupeppen.
Irma, Amelie, Gustl und ich sitzen beim Mittagessen in unserer Wohngemeinschaft, die wir vor einer Woche gegründet haben.
»Nein!«, widerspreche ich entschieden. »Ich habe keine Lust zu feiern. Ich werde sechzig, warum sollte ich das feiern? Zumal ich heute beim Duschen ein graues Schamhaar –«
»Und deshalb bist du so mies drauf?«, unterbricht Irma mich. »Ich spendier dir ein Brazilian Waxing. Ist jetzt auch bei Älteren ein Trend. Wir bieten das seit kurzem bei uns im Salon an.«
»Heißes Wachs auf meine Mumu?« Schockiert starre ich sie an. »Niemals! Und vor allem, für wen? Mich guckt doch kein Mann an. Nicht mal im bekleideten Zustand! Wozu brauche ich ein enthaartes Eroscenter?«
Ich kann nicht anders: Ich habe einfach massive Probleme mit dem Älterwerden. Da hilft es wenig, wenn ich mir immer wieder sage, dass die einzige Alternative keine Alternative ist. Lebensmüde bin ich nämlich nicht. Meine Unzufriedenheithat auch viel mit dem Verlust meines Jobs zu tun. Ich habe es immer noch nicht verwunden, dass ich in den Vorruhestand geschickt wurde. Sechs Monate ist das nur her. Vorruhestand! Was für ein schreckliches Wort. Klingt eindeutig nach jemanden, der vorzeitig schlappgemacht hat. Der es nicht bis ins Ziel geschafft hat.
Fünfunddreißig Jahre war ich in der Buchhaltung einer Textilfirma tätig, die letzten zehn als Chefbuchhalterin. Wie bei vielen mittelständischen Firmen wurde dann die Produktion ins Ausland verlegt, die Angestellten wurden entlassen. In meinem Fall immerhin mit einer netten Abfindung. Natürlich ist so ein finanzielles Polster ein angenehmes Trostpflaster. Das frustrierende Gefühl, ausgemustert und vollkommen nutzlos zu sein, ruiniert dennoch das Selbstbewusstsein.
Irma lässt die Gabel sinken. »Du benimmst dich, als wärst du steinalt und könntest dich nur noch mittels Rollator bewegen.« Sie schüttelt verständnislos den rotgefärbten Kurzhaarschopf. »Hier ist keiner alt. Sechzig ist doch das neue Dreißig! Ich weiß, wovon ich spreche. Immerhin bin ich schon zweiundsechzig. Und ich versichere dir, in meinem Kopf hat sich seit dem Dreißigsten nichts verändert. Ich bin immer noch die leicht durchgeknallte Irma. Wenn’s drauf ankommt, kann ich jederzeit ’nen Gang höher schalten.«
Amelie kichert. »Denk nicht dran, Mathilde«, empfiehlt sie. »Stell dir einfach vor, du wirst mit jedem Tag jünger. Das macht glücklich!«
Amelie ist unsere Fachfrau für Esoterik und die Lebenslust in Person. Gestern schleppte sie zwei Kisten Prosecco an – damit wir für alle Eventualitäten gerüstet wären. Die Anspielung auf meinen Geburtstag war nicht zu überhören. Das erste Fläschchen wurde sofort geöffnet, nur zum Probieren. Amelie war früher meine Mitarbeiterin, aber obwohl sie wie ich in denVorruhestand geschickt wurde, hat das ihrer guten Laune keinen Abbruch getan. Insgeheim nenne ich sie unseren esoterischen Glückskeks.
»Gute Idee, Amelie. Nach dieser Rechnung hätte ich morgen also gar nicht Geburtstag, und wir müssen den Tag auch nicht feiern, oder?«, kontere ich, schiebe mir ein Marzipan-Praliné in den Mund und nehme ein Schlückchen Portwein. Ich behandle meine schlechte Laune nämlich mit »natürlichen Drogen«. Und derartig frustrierende Gespräche ertrage ich nur mit einer Überdosis.
»Soll ich Tarotkarten für dich legen?«, wechselt sie eilig das Thema, wie immer, wenn es zu realistisch wird.
»Nein danke, aber vielleicht schaust du mal, wie die nächste Traubenernte für den Portwein ausfällt«, antworte ich betont freundlich.
Ich glaube nicht an Vorhersagen. Der ganze esoterische Kram ist sowieso Unfug. Amelie dagegen sieht in jeder Karte die große Liebe auf mich zukommen. Sogar in unserem Alter könne sie einem jede Sekunde über den Weg laufen, behauptet sie.
Dem letzten Mann, der mein Herz höher schlagen ließ, bin ich zwar erst vor einigen Tagen in der Weinhandlung begegnet, doch aus solchen Begegnungen wird ohnehin nie etwas. Als wir beide nach derselben Flasche Portwein griffen,
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