Der Strandlaeufer
Ein kleines, wildes Schnauben, das der Sohn bestimmt hört. Aber er wagt nicht, Gesundheit zu sagen, der Feigling. Er ist wieder einmal hier, selten genug, weil er seine Sohnespflicht erfüllen muss. Sie ist müde. Es wäre ihr lieber, sie ließen sie in Ruhe, ihre Gegenwart stört sie, die Gegenwart ihrer beiden Männer lenkt sie ab, nicht den Blick, der bleibt unverwandt, aber die andere Person, die durch sie hindurchstarrt, fühlt sich gestört. Ihre dünne, weiße Hand zittert, auch ihr Kinn zittert, sie ist schwach, es wäre besser, sie gingen hinaus, dieser Mann, der so liebevoll ist und so fremd dabei. Dieser Sohn, dem sie misstraut, weil er manchmal bemerkt, dass nicht sie es ist, die zur Decke starrt, sondern der Tod.
Sie ruft mit lauter, hoher, schwankender Stimme nach ihrem Mann und bittet ihn, das Radio anzuschalten. Es steht auf dem Nachtkästchen. Sie weiß, dass jetzt die Stunde der Operettenmelodien ist. Der Sohn springt auf, schaltet das Radio an und dreht so lange am Abstimmknopf, bis die Musik so klar wie möglich zu hören ist. Sie schließt die Augen und seufzt zufrieden. Endlich ist sie wieder da, die wirkliche Wirklichkeit. Sie bittet flüsternd ihren Sohn zu gehen. Sie kann jetzt niemanden um sich haben, wenn die wirkliche Wirklichkeit zurückkehrt und an der Decke der Vorhang aufgeht und sich zu einem Walzer die Paare zu drehen beginnen. Aber es gibt auch Schatten, dunkle Partien wie in jedem guten Bild. Die kleine Pension zum Beispiel, in der sie sich damals eingemietet hatten. Hier hat sie mit ihrem Mann während der Zeit gewohnt, in der er sein Steuermannsexamen machte. Alles fällt ihr wieder ein. Die Zimmer, die Möbel, das Bett. Es riecht nach Fisch. Das erinnert sie an die Malstunden bei Max Beckmann, wenn er toten Fisch mitbrachte, der von Tag zu Tag mehr stank und zerfiel. Sie sollten ihn zeichnen, aquarellieren oder in Öl malen. Jede Stufe des Verfalls. Auch hier in der Pension in der Sailerstraße riecht es deutlich nach verwesendem Fisch. Sie findet, dass es besonders stark in ihrem Zimmer nach Fisch riecht. Einmal bückt sie sich und zieht aus einer Ritze zwischen zwei Dielenbrettern eine weißliche, gebogene Nadel heraus. Es ist eine Gräte. Sie ekelt sich. Sie bringt die Gräte zur Toilette, wobei sie sie zwischen den Fingerkuppen trägt, und spült sie hinunter. Dreimal muss sie ziehen, bis sie endlich verschwunden ist. Dabei bemerkt sie, dass der Porzellangriff am Ende der Kette wie ein Fisch geformt ist. Sie wäscht sich sorgfältig die Hände. Auch die Seife ähnelt einem Fisch, einer kleinen, glitschigen, weißen Scholle. Im Rücken spürt sie plötzlich den Blick jenes Kerls, der sie gestern heimlich beobachtet hat. Sie rennt zurück ins Zimmer, wirft sich aufs Bett und vergräbt das Gesicht ins Laken. Es ist ihr Bett, das Bett ihrer Liebe, ihrer Leidenschaft. Es ist schmal und aus Messing. Die Matratze ist in der Mitte durchgelegen. Hier schlafen sie eng aneinander, miteinander verwachsen wie siamesische Zwillinge. In diese Mulde rollen sie Nacht für Nacht, um ineinander zu fließen, eine Schale, die man aus zwei Kannen füllt. Jetzt riecht sie es deutlich. Auch das Laken riecht nach Fisch, ganz stark sogar. Man sollte es wechseln. Sie steht auf und zieht es ab. Dann knüllt sie es zusammen. Sie wirft den Stoffballen in eine Ecke und rennt zur
Tür hinaus, die ausgetretene Treppe hoch auf die Straße. Es ist ein warmer Augustabend. Ihr Mann wird heute erst spät nach Hause kommen, denn er hat etwas auf dem Schiff zu tun. Was für eine Arbeit hat er dort eigentlich? Sie versteht nichts davon. Sie versteht nur ihn. Es ist ihr Schicksal, dass sie ihren Mann besser versteht als er sich selbst. Darum wird sie ihm ein Leben lang helfen müssen. Er braucht sie. Ohne sie würde er sich verlieren in all den vielen anderen Menschen, in diesen kalten und leeren Gesichtern, in diesen offenen Mündern und blinden, toten Augen, die die Straßen und Plätze bevölkern.
Sie huscht dicht an den Häusern entlang. Ihr ist elend. Unter einer Gaslaterne liegt Schnee. Dicht und flockig, bestimmt drei Zentimeter hoch. Schnee im Sommer? Sie tritt näher in den Lichtkreis der Gasflamme. Es riecht beißend nach Verwesung. Sie hält sich die Nase zu und bückt sich: Da sieht sie es. Millionen von toten Motten liegen da. Feine Flügel, winzige schwarze Augen, verrenkte Glieder. Sie spürt, wie ihr wieder übel wird, und eilt zurück, die Treppe hinab ins Bad. Sie würgt, bis ihr schwarz wird
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