Der Strandlaeufer
Daten und Fakten der Vergangenheit referiert, müht er sich in Wahrheit darum herauszufinden, was mit ihm noch geschehen wird.
Diesmal ist etwas neu: Der Vater bezieht auch die Familiengeschichte seiner Frau in seine Überlegungen ein. Fast kommt so etwas wie gute Stimmung auf. Die Mutter ist weniger boshaft als sonst. Es gibt Augenblicke, in denen der Sohn das einstige kleine Mädchen in diesem verwelkten Körper zu sehen glaubt. Der Vater trinkt mehr Grogs als gewöhnlich. Er erzählt, dass er morgens schon oft um fünf Uhr wach sei und dann ins Träumen käme. Er stelle sich Fahrten mit einer Yacht vor, die man sich nach seiner Pensionierung hätte kaufen können. Er hätte dann zusammen mit seiner Frau alle magischen Orte seines Seefahrerlebens besuchen können: Pernambuco, St. Kilda, Rockall, St. Pauls-Rock, Fernando de Noronha, die Kerguelen. Überall dort sei er schon gewesen. Er hätte auch in den Indischen Ozean gewollt, dorthin, wo einst Onkel John ertrunken sei.
Während der Sohn lächelnd in sein Glas blickt wie ein Fischer in die Glasröhre, die einem den Blick zum Meeresboden erlaubt, spürt er das sanfte Schwanken des Küchenbodens. Als die Stimme seines Vaters leiser wird, als entferne der Mann sich mitsamt seinen Träumen, genügt ihm ein schneller Blick auf seine Mutter, um Gewissheit zu erlangen, dass sie niemals die Träume ihres Mannes hätte Realität werden lassen, dass dies aber nicht ihr böser Wille ist.
Der Sohn weiß: Es gibt hier kein satanisches Prinzip, keine Logik der Zerstörung. Es gibt nur jene ominöse Angst, die seine Eltern teilen. Es ist die Angst, unwichtig zu sein. Der Wahnsinn, der von diesem Paar ausgeht, das der Sohn notgedrungen seine Eltern nennt, hängt zweifellos zusammen mit ihrem Verlangen nach Bedeutung, nach Unsterblichkeit. Er mutmaßt, beide werden große Schwierigkeiten haben zu sterben, weil ihnen viel zu viel falsches Leben widerfahren ist. Jetzt ist da einfach zu wenig Kraft, zu wenig Selbstvertrauen übrig. Der Vater schließt abends nicht nur die Vorder- und die Hintertür des Hauses ab. Und natürlich die Kellertür. Er verriegelt auch die Türen zwischen sämtlichen Zimmern und nimmt die Schlüssel ins Schlafzimmer mit. Er führt Buch über jeden ausgegebenen Pfennig und kontrolliert jeden Tag die Vorlauftemperatur der Zentralheizung und den Ölverbrauch. Essens- und Schlafenszeiten werden pedantisch eingehalten, kein Bild darf schief hängen, die Teppichfransen werden jede Woche von der Putzfrau gekämmt.
Der Sohn empfindet plötzlich Mitleid mit den beiden. Wahrscheinlich stimmt ihn auch der Alkohol milde. Er sagt, wie gemütlich er es in der Küche fände. »Habe ich dir schon von Onkel John erzählt?«, fragt sein Vater plötzlich. Der Sohn verneint wider besseres Wissen.
»Er ist im Alter von siebzehn Jahren mit der Bark Frank Wilson untergegangen.«
Der Vater wirkt bekümmert, voller Trauer, fast, als sei er selbst betroffen von dieser Katastrophe. Er steht auf und holt Dokumente, Briefe, Schifffahrtshandbücher und einen Taschenrechner aus seiner geliebten Seekiste. Dann rekonstruiert er die Reisegeschwindigkeit der Bark von Tumaco nach Pernambuco, das Gewicht der Ladung, die ungefähre Schiffsposition an Heiligabend 1887, als die Katastrophe nach Ansicht seines Vaters geschah. Der Sohn steht mit dem Taschenrechner neben ihm. Er fühlt sich wie ein Schiffsjunge, der fürchtet, vom Kapitän zusammengestaucht zu werden. »Ich habe eine Theorie darüber, was damals passiert ist«, sagt der Vater, »aber es ist zu früh, sie dir zu erzählen. «
Dann kommt der letzte Abend in dieser Welt. Deshalb soll gefeiert werden. Die Mutter hat bereits am Tag vorher Kartoffelsalat und Sauerfleisch bei der Frau des Kneipenwirts bestellt. Vater und Sohn machen einen Spaziergang, um beides abzuholen. Das Wetter ist inzwischen schön geworden. Sie gehen zum Kanal, um Schiffe zu sehen. Der Vater kennt viele von ihnen aus seiner Zeit als Inspektor und später als Eichmeister. Die untergehende Sonne färbt das Kanalwasser. Der Himmel ist schön wie aus einem illustrierten Märchenbuch. »Jetzt werde ich die Spaziergänge mit dir bald vermissen«, sagt der Vater. Dann schweigen beide wie peinlich berührt.
Beim Festessen später isst der Mann fast nichts, der Sohn hingegen schlingt Sauerfleisch und Kartoffelsalat in sich hinein. »Du isst viel zu schnell«, sagt die Mutter. Sie wiederholt den Satz immer wieder. Dazwischen sagt sie: »Den Kartoffelsalat hat
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