Der Stundenzaehler
gelassen hatten.
Dor kniete neben seiner schweiÃüberströmten Frau. Er beugte sich zu ihr nieder, legte seine Wange an ihre, und seine Tränen vermischten sich mit den ihren, als er flüsterte: »Ich werde dein Leiden beenden. Ich werde allem Einhalt gebieten.«
Als die Sonne aufging, konnte er Alli nicht mehr wecken.
Er rieb ihre Schulter. Er stupste sie am Kinn.
»Alli«, flüsterte er. »Alli ⦠meine Gattin ⦠öffne die Augen.«
Sie lag ganz still, regte sich nicht und atmete nur noch schwach. Dor spürte plötzlich eine wilde Wut in sich, ein urtümliches Grollen, das von seinen FüÃen nach oben stieg und aus seiner Kehle brach.
»Aaaaaaaaaahhhhhhhh â¦Â«
Sein Schrei erhob sich in die Lüfte über der Ebene.
Dor richtete sich auf, so langsam wie in Trance.
Und rannte los.
Er rannte durch den Morgen und die Sonne des Mittags. Er rannte mit heiÃem Brennen in der Lunge, bis er ihn erblickte.
Nims Turm.
Er war so hoch, dass die Spitze in den Wolken verschwand. Dor raste darauf zu, getrieben von einer letzten Hoffnung. Er hatte die Zeit beobachtet, aufgezeichnet, gemessen und erforscht, und nun war er wild entschlossen, den einzigen Ort aufzusuchen, an dem die Zeit verändert werden konnte.
Den Himmel.
Er würde den Turm erklimmen und erreichen, was den Göttern nicht gelungen war.
Er würde die Zeit anhalten.
Der Turm war eine Pyramide, und die Stufen waren einzig und allein für Nims ruhmreichen Aufstieg bestimmt.
Niemand wagte es, den Fuà darauf zu setzen. Manche Männer senkten sogar den Blick, wenn sie daran vorübergingen.
Als Dor den Fuà der Treppe erreichte, streiften ihn die Wachen deshalb nur mit einem kurzen Blick; sie ahnten nichts von seinem Vorhaben. Und bevor sie handeln konnten, rannte er bereits die Treppe des Königs hinauf. Sklaven schauten ihm verblüfft nach. Wer war dieser Mann? Stand es ihm zu, die Treppe zu betreten? Die Sklaven riefen einander Botschaften zu, und nicht wenige lieÃen ihre Ziegel und Werkzeuge fallen.
Und dann folgten sie dem Mann, weil sie glaubten, der Marsch in den Himmel habe begonnen. Die Wachen taten es ihnen gleich, ebenso andere Menschen. Machtlust steckt an. Bald kletterten Tausende die Pyramide hinauf, und aus den Kehlen wütender Männer, die sich aneignen wollten, was ihnen nicht zustand, ertönte lautes Gebrüll.
Was dann geschah, konnte nie wirklich erklärt werden.
In den Geschichtsbüchern steht geschrieben, dass der Turm zu Babel entweder zerstört oder verlassen wurde. Doch der Mann, der einmal Vater Zeit sein würde, konnte etwas anderes berichten, denn sein Schicksal wurde an jenem Tag besiegelt, der das Ende des Turms zu Babel war.
Als immer mehr Menschen den Turm bestiegen, wurde er brüchig. Die Ziegel verfärbten sich feuerrot. Man vernahm ein Donnern, dann schmolz das Fundament des Turms, und die Spitze geriet in Flammen. Der Mittelteil verharrte wie durch ein Wunder in der Luft, und jene, die in den Himmel steigen wollten, wurden abgeschüttelt wie Schnee von Ãsten.
Dessen ungeachtet stieg Dor weiter himmelwärts. Er vergaà Schwindel, Schmerzen, schwere Beine und Atemnot. Um sich her sah er Arme, Ellbogen, FüÃe, Haare, als die Menschen in die Tiefe stürzten.
Tausende fielen an diesem Tag vom Turm und schrien in einer Vielzahl von Sprachen um Hilfe. Nims selbstsüchtiger Plan ward zunichtegemacht, bevor der König einen weiteren Pfeil gen Himmel schieÃen konnte.
Nur einem einzigen Menschen war es vergönnt, die Wolken zu durchdringen. Er wurde hochgehoben und landete auf dem Boden eines dunklen Ortes, den keiner kannte und den keiner jemals finden würde.
16
Dies wird bald geschehen.
Eine Welle im Ozean überschlägt sich, und ein Junge reitet sie auf seinem Surfboard. Seine Zehen haften am Brett, er steuert in die Welle.
Sie erstarrt.
Er auch.
Dies wird bald geschehen.
Eine Friseurin greift nach einer Haarsträhne und setzt die Schere an. Schneidet. Ein leichtes Knirschen.
Die Haare fallen Richtung Boden.
Und bleiben mitten in der Luft hängen.
Das wird bald geschehen.
In einem Museum unweit der HüttenstraÃe in der Stadt Düsseldorf in Deutschland beobachtet ein Aufseher einen seltsamen Besucher. Der Mann ist hager und hat langes Haar. Er tritt zu einer Vitrine mit antiken Uhren. Ãffnet sie.
» Nein, das ist verbo ⦠«, ruft der Aufseher mit erhobenem
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