Der Teufel von Mailand
lesen.«
Die gelbe Frau nickte. »In Ihrem Alter ist man nicht so sehr auf die Sonne angewiesen. Aber unsereins wird schwermütig.«
Von jetzt an schwieg die gelbe Frau. Sonia versuchte, sich auf das Buch zu konzentrieren, aber immer wieder ertappte sie sich dabei, daß ihre Augen lasen und ihr Kopf nicht. Was war sie doch für eine Zicke geworden. Was war schon dabei, mit einer einsamen alten Frau, die ihre Zeit mit Eisenbahnfahrten totschlug, ein paar Worte zu wechseln? Was war denn sie anderes als eine einsame Frau mit ihrem Wellensittich auf einer Bahnfahrt?
Sonia sah aus dem Fenster. Sie konnte die Lokomotive sehen. Über den Quadersteinbögen eines schwindelerregenden Viadukts. Sie schloß die Augen.
Als sie sie öffnete, blieb es stockdunkel.
»Der Landwassertunnel«, sagte die gelbe Frau. Für einen kurzen Moment sah Sonia ihre Stimme. Sie war nicht gelb, sie war von einem staubigen Grau, das sich kaum abhob vom Dunkel des Tunnels.
Ein paar Sekunden später begann der Waggon sich wieder mit dem trüben Tageslicht zu füllen. Dann lag der Tunnel hinter ihnen.
»Sie mögen keine Tunnels und keine Höhen«, stellte die Frau fest. »Dann wohnen Sie in der falschen Gegend.«
»Im falschen Land.«
Die Frau lachte, Sonia lachte mit.
In Samedan mußte Sonia umsteigen. Sie verabschiedete sich von Susi Bellini. So hieß die gelbe Frau, nach ihrem vor bald dreißig Jahren verstorbenen Mann, einem Rohrschweißer aus Kalabrien, über den Sonia jetzt alles wußte.
Frau Bellinis Hoffnung auf ein bißchen Sonne hatte sich nicht erfüllt. Sonia stand mit ihrem Rollwägelchen und Pavarottis Tasche auf dem Bahnsteig und fröstelte. Ein beharrlicher Regen fiel auf Plattformüberdachung und Bahnschwellen. Ihr Aufenthalt dauerte gut zwanzig Minuten. Zu kurz für das Bahnhofbüffet, hatte sie beschlossen. Außer ihr hatte nur ein einziger Mitreisender die gleiche Entscheidung getroffen. Ein älterer Mann mit einem schmalkrempigen Hut aus naßglänzendem Leder. Er trug zwei Einkaufstüten, die er nicht auf den nassen Boden stellen wollte, sie waren aus Papier.
Sonias gute Laune war verflogen. Sie konnte knapp die Depression auf Distanz halten, die auf sie wartete. Sie hatte eine gewisse Virtuosität entwickelt im Umgang mit der Schwermut. Sie wußte, hinter welchen Gedanken sie kauerte, in welchen Bildern sie sich einnistete und welche Geräusche sie anlockten. Es fiel ihr leicht, sich ihr hinzugeben, und auch nicht allzu schwer, sie wieder abzuschütteln.
Pavarotti war so still, daß sie einen Blick in die Tasche warf. Sie schob das Frottiertuch beiseite und sah, daß sie ihn geweckt hatte. Er machte ein paar seitliche Schritte auf dem Zeitungspapier, mit dem sie den Käfigboden ausgelegt hatte, und schaute sie mit einem vorwurfsvollen Auge an. »Pardon«, murmelte sie und zog den Reißverschluß wieder etwas zu.
Ein Elektrowagen mit zwei Anhängern voller Gepäck fuhr vorbei. Sonia erkannte ihre beiden Koffer und die Schachtel mit Pavarottis Käfig. Etwas weiter vorn hielt der Fahrer und begann, in einer zerfledderten Boulevardzeitung zu lesen.
Der leise Dauerregen schwoll plötzlich zu einem Platzregen an. Die rote Lokomotive, die in der Ferne auftauchte, hatte die Scheinwerfer eingeschaltet.
Val Grisch lag in einem Seitental des Unterengadins, eine Viertelstunde mit dem Postauto von der Bahnstation Storta entfernt. Von den etwa sechshundert Einwohnern – in der Hochsaison ein paar mehr – waren die meisten Pendler, die im Oberengadin arbeiteten. Es gab ein paar hauptberufliche Bauern und ein paar wenige nebenberufliche. Wer einen Schreiner, einen Elektriker, einen Schlosser, einen Arzt, einen Apotheker oder einen Lehrer brauchte, fand ihn in Val Grisch auch. Es gab vier Restaurants, fünf Pensionen, ein paar Dutzend Ferienhäuser und -wohnungen, einen Kindergarten, eine Primarschule und eine katholische Kirche aus dem sechzehnten Jahrhundert.
Die touristische Hochblüte hatte das Dorf in der Zeit erlebt, als die Engländer die Schweiz erfanden. Neunzehnhundertdreizehn, im gleichen Jahr, als die Rhätische Bahn die Strecke von Bever nach Scuol einweihte und Val Grisch mit den Hauptstädten dieser Welt verband, eröffnete Gustav Mellinger, ein Unternehmer aus St. Gallen, das Hotel Gamander. Dieser Sommer/Herbst neunzehnhundertdreizehn sollte als die beste Saison in die Geschichte des Gamander eingehen. Im folgenden Sommer brach der Erste Weltkrieg aus, und nach dem Zweiten folgte der Siegeszug der Skilifte. Val
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