Der Teufel von Mailand
Schriftzug »Hotel Gamander«. Zwei nasse Pferde und ein Kutscher in einer durchnäßten Lodenpelerine warteten mißmutig, daß es weiterging. Igor verstaute das Gepäck und öffnete den Schlag.
Sonia lachte. »Damit holt ihr das Personal ab?«
»Zum Üben.« Igor schloß den Schlag und stieg zum Kutscher auf den Bock. Mit ein paar Rucken setzte sich das Gefährt in Bewegung. Sonia war die Sache peinlich.
Colonials Bruhin war eine Mischung aus Lebensmittelladen, Souvenirgeschäft, Kiosk und Schreibwarenhandlung. Es gab dort Wanderkarten, Romanisch-Sprachführer für Anfänger, Handbücher der alpinen Flora und Fauna, aber auch Himalaja-Salz, Duftkerzen, Wohlfühl- und Entspannungstees und andere Überbleibsel verschiedener Sortimentsexperimente der Besitzerin. Auch einen billigen Schirm konnte man dort kaufen oder eine Windjacke. Anna Bruhin, eine hagere Frau von etwas über sechzig, war spezialisiert auf die Dinge, die man vergessen oder nicht eingeplant hatte.
Aber eigentlich versorgten sich die Dorfbewohner bei den Großverteilern im Tal. Dort war es billiger, und die Auswahl war größer. Auch das Geschäft mit den Touristen lief schlecht. Sie kauften ihre Filme nicht mehr bei ihr, weil sie alle Digitalkameras besaßen. Und daß das Gamander, jetzt, da es für Millionen renoviert war, es weiterhin dulden würde, daß die Touristen die bei Colonials Bruhin gekauften Lunchbrote auf der Hotelterrasse aßen, war auch unwahrscheinlich. Vielleicht würde sie kalte Getränke anbieten. Und das Glacé-Sortiment erweitern. Falls es überhaupt jemals Sommer wurde. Es war Anfang Juni, noch nicht einmal sechs Uhr, und sie hatte schon das Licht an im Laden.
Sie öffnete die Ladentür. Das Gebimmel über ihr, das sie dadurch auslöste, registrierte sie schon lange nicht mehr. Neben dem Eingang stand eine Tafel mit der Aufschrift »Heute frische Erdbeeren!«. Sie war mit einer Plastikfolie überzogen, damit der Regen die Kreide nicht wegwusch. Ein einziges Körbchen hatte sie verkauft. So bald würde sie nicht wieder Frischangebote machen.
Frau Bruhin wischte die Folie mit einem Lappen trocken und brachte die Tafel hinein. Als sie die Tür zumachte, fuhr die Kutsche des Gamander vorbei.
Auf dem Sims im Küchenvorraum des Steinbocks lag eine brennende Zigarette. Die Glut fraß sich langsam zum Holz vor. Noch fünf Millimeter, und sie würde einen Brandfleck hinterlassen, wie schon viele andere davor.
Aus der Küche drangen weißes Neonlicht und Salsa. Ab und zu klapperte eine Pfanne oder rauschte ein Wasserhahn. Aber es war viel zu still für eine Restaurantküche eine gute Stunde vor dem Abendessen.
Peder Bezzola betrat den Raum, klaubte die Zigarette vom Sims und nahm einen tiefen Zug. Er trug eine Kochjacke mit Kugelknöpfen und dem Monogramm PB , eine karierte Hose, ein Dreieckstuch und eine Ballonmütze. Alles makellos, wie bei einem Fernsehkoch.
Peder ging zu einem Vorratsgestell, auf dem sich lang haltbare Produkte, Salz, Zucker, Reis, Öl, Konserven, befanden. Dort stand eine angefangene Flasche Bordeaux und ein leeres Glas. Er füllte es und öffnete das Fenster.
Kühle Regenluft drang in den kleinen Raum. Die Straße war menschenleer. Er warf die Zigarette aus dem Fenster.
Ein alter grüner Landrover fuhr vor und parkte neben dem Eingang des Steinbocks. Luzi Bazzell, ein stämmiger älterer Mann in einem grauen Arbeitsanzug, stieg aus und ging auf den Eingang zu. Er würde den ganzen Abend Karten spielen, Bier trinken und einen Salsiz mit Brot essen, vielleicht auch zwei.
Peder zupfte eine neue Zigarette aus einem Päckchen, das auf dem Vorratsgestell lag, und steckte sie an. Er nahm einen Zug und legte sie aufs Fensterbrett. Den Wein hatte er noch nicht angerührt.
Gemächliches Hufegeklapper näherte sich. Peder wandte sich ab, schloß das Fenster, leerte das Glas und ging in die Küche zurück.
Sandro Burger, der Sigrist, schlenderte durchs Mittelschiff und schaute in jede Bankreihe, ob nichts liegengeblieben war. Er tat das eher symbolisch, denn unter der Woche außerhalb der Saison blieb nie etwas liegen. Weil nie jemand die Kirche betrat. Außer der alten Seraina und der noch älteren Annamaria. Aber die beteten nur vor dem Marienaltar und ließen nie etwas liegen.
Nur an jedem vierten Sonntag im Monat, wenn Pater Dionys die Messe las, mußte Sandro Burger den Staubsauger herausholen. Und während der Saison manchmal, wenn eine Reisegruppe die Kirche besichtigt hatte.
Er löschte das ewige Licht
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