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Der Trakt

Der Trakt

Titel: Der Trakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arno Strobel
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sollte. Sie bemühte sich, mit möglichst fester Stimme zu sprechen: »Ich mache dir einen Vorschlag. Ich gehe kurz nach oben und ziehe mir was Anständiges an, und du rufst in der Zeit bei diesem Jungen an und sagst Lukas, dass seine Mama wieder da ist. Und dann möchte ich bitte mit ihm reden.«
    Als er nickte, verließ sie das Wohnzimmer. Auf der Hälfte der Treppe, die im Flur nach oben führte, musste sie stehen bleiben und sich an der Wand anlehnen, weil ein starkes Schwindelgefühl sie beherrschte.
Mein Kopf … Was ist das für ein Albtraum.
Sie betrachtete die wenigen Treppenstufen, die sie noch vom oberen Stockwerk trennten, und spürte das dringende Bedürfnis, in das Zimmer ihres Sohnes zu gehen und dort irgendetwas in die Hand zu nehmen, das ihm gehörte, das nach ihm roch.
    Entschlossen stieg sie nach oben, doch als sie in dem kleinen Flur der ersten Etage stand, zögerte sie.
Was will ich – wo …
Sie fühlte sich plötzlich, als hätte sie zu viel Alkohol getrunken, so viel, dass Dinge, die in einem Moment noch furchtbar wichtig erschienen waren, schon im nächsten Augenblick so nebensächlich wurden, dass man sie vergaß.
    Sibylle vergaß, in das Zimmer ihres Sohnes zu gehen, sie wandte sich ab und ging in ihr Schlafzimmer.
    Vor der verspiegelten Tür des breiten Schrankes sah sie sich zum ersten Mal, seit sie wieder im Leben angekommen war, und fand die Frau, die ihr von dort entgegensah, befremdlich. Nicht, dass sie sich nicht erkannt hätte, ihr Gesicht war vertraut, aber es wirkte wie das einer engen Freundin oder einer Schwester auf sie. Die schulterlangen, zart gelockten, blonden Haare gehörten zweifelsohne genau so zu ihr wie die Sommersprossen um die Nase. In dem Spiegel wirkte sie größer als 1,70 m, aber das lag wahrscheinlich daran, dass die Tür etwas geneigt war. Das dort im Spiegel war eindeutig sie, und für ihre 34 Jahre sah sie auch noch recht gut aus aber …
irgendwie auch seltsam. So seltsam wie alles im Moment.
    Sie öffnete die Schranktür, zog Jeans und ein weißes T-Shirt an und musste dabei feststellen, dass sie in den letzten beiden Monaten wohl einige Kilos verloren hatte. Die Hose war mindestens eine Nummer zu groß und hing ihr schlaff am Körper. Aber sie war auch ein Stück zu kurz. Johannes musste sie in der Zwischenzeit gewaschen und das falsche Waschprogramm gewählt haben.
Egal. Endlich nicht mehr halbnackt durch die Gegend hetzen wie eine Psychiatriepatientin.
Sie zog noch eine dünne Baumwolljacke über und schlüpfte wieder in Rosies Mokassins, die sehr bequem waren.
    Beim Hinausgehen fiel ihr Blick auf ein Foto, das auf dem Nachttisch auf Hannes’ Bettseite stand, und sie stockte. Sie kannte die Aufnahme.
Während unserer Hochzeitsreise, auf Kreta.
Hannes hatte die Kamera einem jungen, sehr gutaussehenden Griechen in die Hand gedrückt und ihn gebeten, ein Foto von ihnen zu machen.
    Mit einem zärtlichen Lächeln ging sie auf den Nachttisch zu, nahm den Holzrahmen in die Hand und betrachtete die Fotografie. Fast im gleichen Moment fiel sie ihr aus den mit einem Mal kraftlos gewordenen Fingern und blieb mit der Vorderseite nach oben auf dem Teppichboden liegen.
    Sibylle stand da, starrte auf das Foto und horchte in sich hinein. Sie suchte nach Anzeichen dafür, dass ihre Psyche der Situation nicht mehr gewachsen war und sich ein Nervenzusammenbruch ankündigte.
    Langsam ging sie in die Hocke und betrachtete die dargestellte Szene genau. Die Umgebung stimmte, und auch Hannes sah so aus wie jetzt, nur eben ein wenig jünger. Aber die Frau, die er im Arm hielt – das war nicht sie. Diese Frau war zwar ebenfalls blond, aber es war ganz eindeutig jemand anderes. Sibylle hatte das deutliche Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben, aber sie wusste weder ihren Namen, noch konnte sie einordnen, wo oder wann sie ihr begegnet war.
Wie kommt diese Frau auf ein Bild von unserer Hochzeitsreise? Mit Johannes, meinem Mann.
    Sie richtete sich ein Stück auf und setzte sich auf die Bettkante.
    Also gut, fassen wir zusammen: Mir fehlen die letzten beiden Monate meines Lebens. Ich war im Keller eines Krankenhauses eingeschlossen und habe dort einen Arzt niedergeschlagen. Ich bin halbnackt durch die Straßen von Regensburg gelaufen und habe mich von einer netten, aber verrückten älteren Dame nach Hause bringen lassen, um hier von meinem Mann zu erfahren, dass er nicht mein Mann ist und ich gar nicht ich bin. Ich kann ihn überzeugen, mich zumindest anzuhören, um dann

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