Der Trakt
es sich vorgestellt hatte.
Es konnte noch dauern, bis sich dort drüben vor dem Haus etwas tat. Hans lehnte sich zurück. Dabei entging ihm nicht die kleinste Bewegung in der direkten Umgebung des Hauses.
Hans war dem Doktor das erste Mal 2002 begegnet, wenige Wochen nachdem er freiwillig aus der Fremdenlegion ausgeschieden war, nach über 20 Jahren im aktiven Dienst.
Er war 1991 am Golf gegen Hussein dabei gewesen, in Somalia und später im Kosovo, in Bosnien und in Mazedonien. Und plötzlich hatte er nicht mehr für den Krieg getaugt.
Beim Häuserkampf in Grbavica, einem hart umkämpften Stadtteil Sarajevos, war er im Kellergeschoss eines mehrstöckigen Hauses verschüttet worden. Drei Tage und Nächte hatte er im Schutt gelegen, in der schwärzesten Dunkelheit, die man sich vorstellen konnte, den rechten Unterarm und das Becken mehrmals gebrochen, mit einem schweren Betonklotz auf der verwundeten Hüfte. Am Anfang hatte er geschrien. Nicht vor Schmerzen, das war ihnen schon während der Ausbildung abgewöhnt worden, nein, er hatte versucht, die Kameraden auf sich aufmerksam zu machen, damit sie ihn befreiten und er so bald wie möglich wieder kämpfen konnte.
Irgendwann war kein Ton mehr aus seinem Mund gekommen, und so hatte er gewartet und gewartet. Dann, nach einer unendlich langen Zeit in seiner winzigen, schwarzen Höhle aus Schutt, in der die Luft so dick geworden war, dass sie beim Einatmen wie altes Öl durch die Luftröhre kroch und die Lungen verklebte, hatte er in all der Schwärze etwas spüren können, das nicht zu sehen war. Vielleicht als Resultat der ungewöhnlichen Situation war seine Wahrnehmungsfähigkeit in einem Maße gesteigert gewesen, wie es sicher nur ganz wenigen Menschen je vergönnt war. Mit einem Schlag hatte sich ihm seine Umgebung, sein Leben in der einzig wahren Gestalt offenbart: als Ansammlung von Ereignissen, die aus vielen Elementen bestanden, die tausendfach in jeder Sekunde aufeinandertrafen. Diese Erkenntnis war so überwältigend gewesen, dass er laut gegen den Schutt angelacht hatte mit seiner wunden Stimme.
So hatte er damit begonnen, zum ersten Mal in seinem Leben über die wirklich wichtigen Dinge nachzudenken.
Irgendwann war er dann von einem gleißenden Lichtblitz getroffen worden. Kameraden hatten ihn gefunden.
Eine lange Zeit hatte er in Krankenhäusern verbracht. Selbst dann noch, nachdem seine Knochen schon wieder einigermaßen verheilt waren. Immer wieder hatte er sich mit Ärzten unterhalten und immer wieder die gleichen, seltsamen Fragen beantworten müssen.
Irgendwann durfte er dann doch wieder zurück.
Aber sie hatten sich alle verändert. Sein Capitaine hatte ihm erklärt, für ihn seien die Kriege vorbei. Neue Aufgaben in der Schreibstube würden auf ihn warten. Und die Kameraden? Sie hatten ihm plötzlich nicht mehr zuhören wollen. Bei jedem seiner Versuche, sein neues Wissen mit ihnen zu teilen, waren sie einfach weggegangen, hatten ihn stehenlassen wie einen Aussätzigen. Gegen die großen Narben auf dem Unterarm hatte er etwas tun können, gegen die in seinem Inneren aber nicht.
Nach Jahren der Demütigungen hatte er Nîmes und seine Kameraden vom 2ème Régiment Étranger d’Infanterie dann verlassen, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung zu haben, wie sein Leben weitergehen sollte.
Laut dem Kodex der Légion étrangère würde er zwar zeit seines Lebens zur großen Familie gehören, und die Legion zahlte ihm auch eine kleine Pension, weil er mehr als 18 Jahre gedient hatte, aber was nützte ihm das? Zurück in Deutschland hatte er festgestellt, dass das Leben sehr schwer war, wenn man niemanden hatte, auf dessen Befehle man sich verlassen konnte. Die meisten Menschen hatten keine Ehre und keinen Respekt.
Als er nach einer Kneipenschlägerei mit drei schwächlichen Kerlen in den Fängen der deutschen Justiz landete, lernte er den Doktor kennen. Kurz vor der Verhandlung wegen Körperverletzung stand dieser Mann vor der Tür seiner kargen, penibel aufgeräumten Wohnung am Stadtrand von München: Er könne ihm vielleicht einen Job anbieten, ob er Interesse habe. Der Doktor besaß Autorität, das hatte Hans beim ersten Blick in seine Augen gespürt, und dass es ihn glücklich machte, einem Mann wie ihm gegenüberzusitzen. Fast wäre er aufgesprungen und hätte ihm geantwortet: ›Oui, mon Capitaine!‹
Der Doktor hatte sich bei der Verhandlung für ihn eingesetzt und der Richterin erklärt, dass er eine feste Arbeitsstelle als
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