Der Traum des Kelten
aus dem Dschungel auftauchte und der Welt verkündete, er habe DoktorLivingstone lebend gefunden, war Roger beinahe acht. Die spektakuläre Geschichte versetzte ihn in neidvolles Staunen. Ein Jahr später wurde bekannt, dass Livingstone, der in Afrika geblieben war und nicht nach England zurückkehren wollte, verstorben war. Roger hatte das Gefühl, er persönlich habe einen großen Verlust erlitten. Wenn er einmal groß wäre, nahm er sich vor, würde er auch ein so außergewöhnliches Forscherleben führen wie Livingstone und Stanley.
Mit fünfzehn Jahren wurde Roger von seinem Großonkel John Casement nahegelegt, die Schule zu verlassen und sich eine Anstellung zu suchen, da weder er noch seine Geschwister über ein Vermögen verfügten, von dem sie leben konnten. Roger willigte ein. Gemeinsam beschlossen sie, dass Roger nach Liverpool gehen würde, wo leichter Arbeit zu finden war als in Nordirland. Und in der Tat verschaffte ihm kurz nach seiner Ankunft bei den Bannisters sein Onkel Edward eine Stelle in derselben Handelskompanie, für die er tätig war. So trat Roger als Lehrling in die Schifffahrtsgesellschaft ein. Er wirkte älter als fünfzehn, groß und schmal, wie er war. Er hatte tiefgründige graue Augen, lockiges schwarzes Haar, einen hellen Teint und gerade Zähne. Von Natur aus eher wortkarg, zeigte er sich diskret, freundlich und hilfsbereit. Englisch sprach er mit einem leichten irischen Akzent, wofür er von seinen Cousins aufgezogen wurde.
Seine abgebrochene Schulausbildung machte Roger durch Ernsthaftigkeit und Fleiß wett. Er erledigte gewissenhaft seine Pflichten in der Handelskompanie und war bemüht, möglichst viel zu lernen. Er wurde der Verwaltungs- und Buchhaltungsabteilung zugeteilt, zunächst als Laufbursche. Er trug Schriftstücke von einer Schreibstube in die andere und erledigte am Hafen die Zollformalitäten für Schiffsfrachten. Seine Vorgesetzten schätzten ihn. Doch in den vier Jahren, die er bei der Elder Dempster Line angestellt war, freundete er sich mit niemandem an, was wohl an seiner zurückhaltenden Art und seinen spartanischen Gewohnheiten liegen mochte: Feuchtfröhliches Beisammensein war ihm zuwider, er selbsttrank so gut wie nie, und in die Hafenkneipen und Bordelle setzte er keinen Fuß. Allein das Rauchen gewöhnte er sich zu dieser Zeit an. Seine Leidenschaft für Afrika und sein Bestreben, sich in der Handelskompanie hochzuarbeiten, brachten ihn dazu, aufmerksam alle Publikationen zu lesen, die in den Geschäftsstellen zirkulierten, und ihr Gedankengut zu verinnerlichen. Europäische Produkte nach Afrika zu verschiffen und Rohstoffe zu importieren, die auf afrikanischem Boden wuchsen und vorkamen, war demnach weniger eine Handelsoperation als eine Unternehmung zugunsten der Entwicklung der Naturvölker, unter denen Kannibalismus und Sklavenhandel herrschten. Der Handel brachte ihnen Religion, Moral, Gesetz, die Werte des modernen, kultivierten, freien und demokratischen Europas, dessen Fortschrittlichkeit aus unglücklichen Stammesbewohnern Menschen auf der Höhe der Zeit machen würde. Großbritannien nahm dabei die Vorreiterrolle ein, und man musste stolz auf das Vaterland und den Beitrag einer Kompanie wie der Elder Dempster Line sein. Seine Arbeitskollegen wechselten, wenn Roger solche Gedanken zum Ausdruck brachte, spöttische Blicke und fragten sich wohl, ob er wirklich so naiv oder im Gegenteil ganz besonders gerissen war, ob er an diesen Unsinn glaubte oder ihn bloß von sich gab, um sich bei seinen Vorgesetzten beliebt zu machen.
Während der vier Jahre in Liverpool wohnte Roger bei seiner Tante Grace und seinem Onkel Edward, denen er dafür einen Teil seines Lohns gab und die ihn wie einen Sohn behandelten. Er verstand sich gut mit seinen Cousins und vor allem mit Gee, mit der er an Sonn- und Feiertagen bei gutem Wetter rudern oder angeln ging und sich bei Regen an den Kamin setzte, wo sie einander vorlasen. Ihre Beziehung war geschwisterlich, kannte weder Streit noch Turtelei. Gee zeigte er auch die Gedichte, die er heimlich schrieb.
Bald wusste Roger über die Tätigkeiten der Handelsgesellschaft bestens Bescheid, und ohne jemals in einem der afrikanischen Häfen gewesen zu sein, sprach er von ihnen, als hätteer sich sein Leben lang dort aufgehalten und sei vertraut mit ihren Handelsgeschäften, Bräuchen und Menschen.
Schließlich fuhr er an Bord der SS Bonny dreimal selbst nach Westafrika. Das beglückte ihn so sehr, dass er nach der dritten
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