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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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»Geräusch« war es nicht) durch unsere Leben schnitten. Wir hörten Musik, Eterna, Melodia hießen die Schallplatten, bei Herrn Trüpel gab es sie zu kaufen, im Schallplattenladen »Philharmonia« an der Bautzner Straße, oder im »Kunstsalon am Altmarkt« … die Große Uhr schlug
    – Dresden … in den Musennestern / wohnt die süße Krankheit Gestern
    – Suchend, in der Nacht der Strom, Wald wurde Braunkohle, Braunkohle bildete Flöze unter den Häusern, die Gruben-Maulwürfe wühlten sich vor und schürften die Kohle, Förderbänder ließen sie zu den Heizern wandern, in die Kraftwerke mit ihren Feuerschloten, in die Häuser, wo aus den Schornsteinen der saure Rauch stieg, der die Mauern zerfraß und die Lungen und die Seelen, die Tapeten in Krötenhaut verwandelte; die abblätternden und blasenwerfenden Tapeten in den Zimmern, vergilbt und durchzogen von den Kotschnüren des Ungeziefers; wenn die Öfen angeheizt waren, schienen die Wände zu schwitzen und sonderten Nikotin ab, das sich seit alten Zeiten darin festgesetzt hatte; wurde es kalt, gefroren die Scheiben, überzogen sich die Tapeten mit Reif, Farnschlieren und öligem Eis (wie Fett in einer unabgewaschenen, in eine ungeheizte Abstellkammer verbannten Pfanne). Ein gelber Vogel, der manchmal in unseren Träumen krächzte, wachte über allem: der Minol-Pirol, und wenn die Uhren schlugen, waren unsere Körper erstarrt und gefangen, die Rosen wuchsen,
    schrieb Meno Rohde,
    Sandmann streute Schlaf

I. Buch:
Die Pädagogische Provinz

1.
Auffahrt
    Die elektrischen Zitronen aus dem VEB »Narva«, mit denen der Baum dekoriert war, hatten einen Defekt, flackerten hin und wieder auf und löschten die elbabwärts liegende Silhouette Dresdens. Christian zog die feucht gewordenen, an den wollenen Innenseiten mit Eiskügelchen bedeckten Fäustlinge aus und rieb die vor Kälte fast taub gewordenen Finger rasch gegeneinander, hauchte sie an – der Atem verging als Nebelstreif vor dem finster liegenden, in den Fels gehauenen Eingang des Buchensteigs, der hinauf zu Arbogasts Instituten führte. Die Häuser der Schillerstraße verloren sich im Dunkel; vom nächstgelegenen, einem Fachwerkhaus mit verriegelten Fensterläden, lief eine Stromleitung ins Geäst einer der Buchen über dem Felsdurchgang, ein Adventsstern brannte dort, hell und reglos. Christian, der über das Blaue Wunder und den Körnerplatz gekommen war, ging weiter stadtauswärts, in Richtung Grundstraße, und erreichte bald die Standseilbahn. Vor den Schaufenstern der Geschäfte, an denen er vorüberging – ein Bäcker, Molkereiwaren, ein Fischladen –, waren die Rolläden herabgelassen; düster und mit aschigen Konturen, halb schon in Schatten, lagen die Häuser. Es schien ihm, als ob sie sich aneinanderdrängten, Schutz beieinander suchten vor etwas Unbestimmtem, noch nicht Ergründbarem, das vielleicht aufgleiten würde aus der Dunkelheit – wie der Eismond aufgeglitten war über der Elbe vorhin, als Christian auf der menschenleeren Brücke stehengeblieben war und auf den Fluß geblickt hatte, den dicken, von seiner Mutter gestrickten Wollschal über Ohren und Wangen gezogen gegen den frostscharfen Wind. Der Mond war langsam gestiegen und hatte sich von der kaltträgen, wie flüssige Erde wirkenden Masse des Stroms gelöst, um allein über den Wiesen mit ihren in Nebelgespinste gehüllten Weiden, dem Bootshaus auf der Altstädter Elbseite zu stehen, den gegen Pillnitz zu sich verlierenden Höhenzügen. Von einem Kirchturm in der Ferne schlug es vier, was Christian wunderte.
    Er ging den Weg zur Standseilbahn hinauf, stellte seine Reisetasche auf die verwitterte Bank vor dem Gatter, das den Bahnsteig abschloß, und wartete, die Hände samt Handschuhen in die Taschen seiner militärgrünen Parka gesteckt. Die Zeiger der Bahnhofsuhr über dem Schaffnerhäuschen schienen sehr langsam vorzurücken. Außer ihm wartete niemand auf die Standseilbahn, und um sich die Zeit zu vertreiben, musterte er die Anzeigentafeln. Lange waren sie nicht mehr gesäubert worden. Eine warb für das Café Toscana auf der Altstädter Elbseite, eine für das weiter in Richtung Schillerplatz liegende Geschäft Nähter, eine andere für das Restaurant Sibyllenhof an der Bergstation. In Gedanken begann Christian Fingersatz und Melodiefolge des italienischen Stücks zu wiederholen, das auf der Geburtstagsfeier für den Vater gespielt werden sollte. Dann sah er in die Dunkelheit des Tunnels. Ein schwacher Schein wuchs, füllte

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