Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Titel: Der untröstliche Witwer von Montparnasse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
Vom Netzwerk:
ein bißchen schnell für ihn, er hatte schreckliche Angst davor, etwas zu sagen, was er nicht sagen durfte.
    Gisele dachte nach. Klar, der Typ war ziemlich seltsam, aber Marthe wußte sich zu verteidigen. Und viertausend waren viertausend.
    »Gut, ich glaub dir«, sagte sie. »Kennst du die Bouquinisten an den Quais?«
    »An den Quais? An den Seine-Quais?«
    »Ja doch, Dummkopf. So viele verschiedene gibt's hier ja nicht! Also: an den Quais, am linken Seineufer, auf der Höhe der Rue de Nevers, da kannst du sie nicht verfehlen. Sie hat einen kleinen Bouquinistenstand, den hat ihr ein Freund besorgt. Die alte Marthe bewegt sich nicht gerne. Behältst du das? Sicher? Du machst nicht gerade den Eindruck, besonders helle zu sein, entschuldige.«
    Clement starrte sie an, ohne zu antworten. Er wagte nicht, noch einmal nachzufragen. Und trotzdem, sein Herz hämmerte, er mußte Marthe finden, alles hing davon ab.
    »Also gut«, seufzte Gisele. »Ich werd's dir aufschreiben.«
    »Du gibst dir zuviel Mühe«, sagte Line achselzuckend.
    »Halt die Klappe«, wiederholte Gisele. »Du hast keine Ahnung.«
    Sie kramte in ihrer Tasche und holte einen leeren Umschlag und einen Bleistiftstummel heraus. Sie schrieb ordentlich und in großen Buchstaben, sie hatte den Verdacht, daß der Junge tatsächlich nicht sehr helle war.
    »Mit dem hier wirst du sie wiederfinden. Richte ihr schöne Grüße von Gisele aus der Rue Delambre aus. Und keine Dummheiten, klar? Ich vertrau dir.«
    Clement nickte. Er packte schnell den Umschlag ein und hob sein Akkordeon auf.
    »Ach, sag mal«, sagte Gisele, »spiel mir doch noch was vor, damit ich sehe, daß das kein Trick ist. Entschuldige, ich bin dann ruhiger.«
    Clement hängte sich das Instrument um und zog sorgfältig den Blasebalg auseinander, während ihm die Zunge leicht aus dem Mund hing. Dann spielte er, den Blick zu Boden gerichtet.
    Weshalb man Trottel nicht für blöd halten sollte, sagte sich Gisele, während sie zuhörte. Der hier war ein richtiger Musiker. Ein richtiger Trottelmusiker.
     

3
     
    Clement bedankte sich umständlich und machte sich wieder auf den Weg Richtung Montparnasse. Es war fast sieben Uhr abends, und Gisele hatte gesagt, er müsse sich beeilen, wenn er die alte Marthe noch erwischen wollte, bevor sie ihren Stand zuklappte. Mehrfach mußte er mit dem Zettel in der Hand nach dem Weg fragen. Endlich: die Rue de Nevers, der Quai und die mit Büchern vollgestopften, grüngestrichenen hölzernen Stände. Er suchte die Auslagen mit den Augen ab, aber er entdeckte nichts Vertrautes. Er mußte schon wieder nachdenken. Gisele hatte gesagt, siebzig Jahre. Marthe war eine alte Frau geworden, er durfte nicht nach der Frau mit braunen Haaren suchen, die er in Erinnerung hatte.
    Eine ältere Frau mit gefärbten Haaren und bunter Kleidung wandte ihm den Rücken zu und klappte einen Segeltuchstuhl zusammen. Sie drehte sich um, und Clement schlug sich mit den Fingern auf den Mund. Das war seine Marthe. In alt, o. k., aber das war seine Marthe, das war die, die ihm mit der Hand durchs Haar gefahren war und ihn nie als Kretin behandelt hatte. Er wischte sich die Nase ab, überquerte bei Grün die Straße und rief ihren Namen.
    Die alte Marthe musterte den Mann, der sie rief. Der Typ da schien sie zu kennen. Ein schwitzender Mann, klein, mager, mit einem blauen Akkordeon unter dem Arm, das er wie einen Blumentopf hielt. Er hatte eine große Nase, leere Augen, weiße Haut, helles Haar. Clement hatte sich vor ihr aufgepflanzt, er lächelte, er erkannte alles wieder, er war in Sicherheit.
    »Ja, bitte?« fragte Marthe.
    Clement hatte nicht daran gedacht, daß Marthe ihn nicht erkennen könnte. Angst ergriff ihn. Und wenn Marthe ihn vergessen hatte? Und wenn Marthe alles vergessen hatte? Und wenn sie den Verstand verloren hatte?
    Sein Kopf war leer, und er kam nicht einmal auf die Idee, seinen Namen zu sagen. Er stellte das Akkordeon aufs Pflaster und suchte fieberhaft nach seiner Brieftasche. Vorsichtig zog er seinen Personalausweis daraus hervor und streckte ihn Marthe ängstlich hin. Er liebte seinen Personalausweis sehr.
    Marthe zuckte mit den Schultern und sah auf den abgewetzten Ausweis. Clement Didier Jean Vauquer, neunundzwanzig Jahre. Schön und gut, aber das sagte ihr überhaupt nichts. Sie sah den Mann mit den glasigen Augen an und schüttelte etwas betrübt den Kopf. Dann noch einmal den Ausweis, dann den Mann, der keuchend atmete. Sie spürte, daß sie sich ein bißchen

Weitere Kostenlose Bücher