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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stuart
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Raum zu Raum ging, fielen ihr ein paar Dinge auf, die ihr entgangen waren, als sie sich für die Wohnung entschieden hatte. Im Wohnzimmer, das auf eine große Straße hinausging, merkte sie erst jetzt, wie laut es dort war. Die Küche wiederum war viel größer als die im Salt Tower, hatte aber leider keinen Gas-, sondern einen Elektroherd, und das Innere der Schränke war mit einer schmierigen Schicht bedeckt. Sie ging ins Bad und sah, dass sich der ausgebleichte Teppich unter dem Waschbecken wellte. Als sie irgendwann auf dem klapprigen Bett saß, das von unzähligen Fremden für den intimsten aller Akte benutzt worden war, fragte sie sich, ob sie sich wohl je daran gewöhnen würde, alleine zu schlafen.
    Sie betrachtete den Siebzigerjahre-Ankleidetisch, den sie nie gekauft hätte, und vermisste bereits den Luxus von Valerie Jennings ’ überheizter Wohnung mit ihren Rüschenhüllen für die Taschentuchboxen. Schließlich sagte sie sich, dass es ja nur eine vorübergehende Behausung war. Wenn der Vertrag der Mieter in Catford auslief, würde sie wieder in ihr altes Haus ziehen, wo die mit Teppich bedeckten Treppen schnurgerade nach oben führten, die Räume rechteckig waren und die Nachbarn nicht einmal ihren Namen, geschweige denn ihren Beruf kannten.
    Die Vorstellung, irgendwann in ihr altes Haus heimzukehren, konnte sie allerdings nicht vor der Welle des Elends schützen, die sie jetzt überrollte, und so dachte sie lieber an das Strandgut ihrer Ehe. Jahrelang hatten sie und ihr Ehemann in einem Zustand herrlicher Selbsttäuschung gelebt und mehr gute Seiten am jeweils anderen gesehen, als es wirklich gab. Während viele Menschen das Schweigen in ihrer Beziehung damit füllten, sich in die Arme eines anderen zu wünschen, hatten Hebe und Balthazar Jones unentwegt miteinander geredet und waren felsenfest davon überzeugt gewesen, den Richtigen gefunden zu haben. Seit der Tragödie zersetzte allerdings Verzweiflung ihre überwältigende Liebe und ließ sie langsam erlöschen. Alles, was blieb, war ein Echo.
    Plötzlich trieb die unvertraute Umgebung sie zurück auf die Beine und in den Flur hinaus. Sie öffnete die Haustür und zog sie wieder hinter sich zu. Als sie die Stufen zum Fundbüro der Londoner Untergrundbahn hinunterstieg, hatte sie immer noch das Geräusch der knallenden Tür im Ohr.
    Valerie Jennings tauchte hinter den Regalen auf und erkundigte sich bei ihrer Kollegin nach der neuen Wohnung.
    »Sie ist sehr hübsch«, antwortete Hebe Jones. »Danke noch mal, dass ich so lange bei dir wohnen durfte.«
    Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, schob den silbernen Brieföffner hinter die Lasche eines Briefumschlags und war fest entschlossen, sich mit der Lektüre ihrer Post abzulenken. Aber es war nichts Interessantes dabei, außer einem weiteren Dankesschreiben von Samuel Crapper – diesmal dafür, dass sie ihn mit seiner Cordjacke wieder vereint hatte – und einer Liste jener Mitglieder des Holzarbeiterverbands, die Auftragsarbeiten ausführten. Hebe Jones überflog die seitenlange Liste und war deprimiert. Als sie an den Fremden dachte, der die Urne verloren hatte, deprimierte sie das noch mehr, und sie wählte die erste Nummer. Nach dem ersten Misserfolg wählte sie die nächste Nummer und arbeitete die Liste ab, indem sie überall nachfragte, ob man je mit Granatapfelholz gearbeitet habe. Gerade als sie am Ende der ersten Seite angelangt war, hörte sie die Schweizer Kuhglocke läuten. Unwillig, sich jetzt stören zu lassen, schaute sie zu Valerie Jennings hinüber. Die hatte aber gerade ein Set Golfschläger im Arm und verschwand mit der Schlagseite eines schlecht beladenen Schiffs im Gang.
    Am original viktorianischen Schalter stand ein Mann in einem langen Ledermantel. Sein Haar hatte er wachsen lassen, um dem allgemeinen Schwund etwas entgegenzusetzen, und so hing ihm nun ein dünner Pferdeschwanz den Rücken hinab. Aknenarben betonten sein vampirweißes Gesicht.
    »Ist das hier das Fundbüro der Londoner Untergrundbahn?«, fragte er.
    »Was kann ich für Sie tun?«, fragte Hebe Jones.
    Der Mann legte eine Hand auf den Tresen. »Vor ungefähr einem Monat habe ich ein Tagebuch in der U-Bahn verloren. Ich habe erst jetzt erfahren, dass es ein Fundbüro gibt, und da dachte ich, dass es vielleicht irgendjemand abgegeben hat. Es ist schwarz, hat einen festen Einband und ist mit grüner Tinte geschrieben.«
    »Einen Moment bitte.«
    Hebe Jones trat um die Ecke herum, kam schnell mit dem Tagebuch des

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