Der Verdacht
Bärlach.
Die Klinik habe das Vermögen vieler Patienten geerbt, antwortete Hungertobel mit sichtlich schlechtem Gewissen. Das sei dort so ein wenig Mode.
«Das ist euch Ärzten also aufgefallen!» sagte der Kommissär.
Die beiden schwiegen. In der Stille lag etwas Unausgesprochenes, vor dem sich Hungertobel fürchtete.
«Du darfst jetzt nicht denken, was du denkst», sagte er plötzlich entsetzt.
«Ich denke nur deine Gedanken», antwortete der Kommissär ruhig. «Wir wollen genau sein. Mag es auch ein Verbrechen sein, was wir denken, wir sollten uns nicht vor unseren Gedanken fürchten. Nur wenn wir sie vor unserem Gewissen auch zugeben, vermögen wir sie zu überprüfen und, wenn wir unrecht haben, zu überwinden. Was denken wir nun, Samuel? Wir denken: Emmenberger zwingt seine Patienten mit den Methoden, die er im Konzentrationslager Stutthof lernte, ihm das Vermögen zu vermachen, und tötet sie nachher.»
«Nein», rief Hungertobel mit fiebrigen Augen: «Nein!» Er starrte Bärlach hilflos an. «Wir dürfen das nicht denken! Wir sind keine Tiere!» rief er aufs neue und erhob sich, um aufgeregt im Zimmer auf und ab zu gehen, von der Wand zum Fenster, vom Fenster zum Bett.
«Mein Gott», stöhnte der Arzt, «es gibt nichts Fürchterlicheres als diese Stunde.»
«Der Verdacht», sagte der Alte in seinem Bett, und dann noch einmal unerbittlich: «Der Verdacht.»
Hungertobel blieb an Bärlachs Bett stehen: «Vergessen wir dieses Gespräch, Hans», sagte er. «Wir ließen uns gehen. Freilich, man liebt es manchmal, mit Möglichkeiten zu spielen. Das tut nie gut. Kümmern wir uns nicht mehr um Emmenberger. Je mehr ich das Bild ansehe, desto weniger ist er es, das ist keine Ausrede. Er war in Chile und nicht in Stutthof, und damit ist unser Verdacht sinnlos geworden.»
«In Chile, in Chile», sagte Bärlach, und seine Augen funkelten gierig nach einem neuen Abenteuer. Sein Leib dehnte sich, und dann lag er wieder unbeweglich und entspannt, die Hände hinter dem Kopf.
«Du mußt jetzt zu deinen Patienten gehen, Samuel», meinte er nach einer Weile. «Die warten auf dich. Ich wünsche dich nicht länger aufzuhalten. Vergessen wir unser Gespräch, das wird am besten sein, da hast du recht.»
Als Hungertobel sich unter der Türe noch einmal mißtrauisch zum Kranken wandte, war der Kommissär eingeschlafen.
Das Alibi
A m anderen Morgen fand Hungertobel den Alten um halb acht nach dem Morgenessen beim Studium des Stadtanzeigers, etwas verwundert; denn der Arzt war früher als sonst gekommen, und Bärlach pflegte um diese Zeit wieder zu schlafen, oder doch wenigstens, die Hände hinter dem Kopf, vor sich hinzudösen. Auch war es dem Arzt, als sei der Kommissär frischer als sonst, und aus seinen Augenschlitzen schien die alte Vitalität zu leuchten.
Wie es denn gehe, begrüßte Hungertobel den Kranken.
Er wittere Morgenluft, antwortete dieser undurchsichtig.
«Ich bin heute früher als sonst bei dir, und ich komme auch nicht eigentlich dienstlich», sagte Hungertobel und trat zum Bett. «Ich bringe nur schnell einen Stoß ärztlicher Zeitungen: die Schweizerische medizinische Wochenschrift, eine französische, und vor allem, da du auch Englisch verstehst, verschiedene Nummern der ‹Lancet›, der berühmten englischen Zeitschrift für Medizin.»
«Das ist lieb von dir, anzunehmen, ich interessiere mich für dergleichen», antwortete Bärlach, ohne vom Anzeiger aufzublicken, «aber ich weiß nicht, ob es gerade die geeignete Lektüre für mich ist. Du weißt, ich bin kein Freund der Medizin. »
Hungertobel lachte: «Das sagt einer, dem wir geholfen haben!»
Eben, sagte Bärlach, das mache das Übel nicht besser.
Was er denn im Anzeiger lese? fragte Hungertobel neugierig.
«Briefmarkenangebote», antwortete der Alte.
Der Arzt schüttelte den Kopf: «Trotzdem wirst du dir die Zeitschriften ansehen, auch wenn du um uns Ärzte für gewöhnlich einen Bogen machst. Es liegt mir daran, dir zu beweisen, daß unser Gespräch gestern eine Torheit war, Hans. Du bist Kriminalist, und ich traue dir zu, daß du aus heiterem Himmel unseren verdächtigen Modearzt samt seinen Hormonen verhaftest. Ich begreife nicht, wie ich es vergessen konnte. Der Beweis, daß Emmenberger in Santiago war, ist leicht zu erbringen. Er hat von dort in verschiedenen medizinischen Fachzeitschriften Artikel veröffentlicht, auch in englischen und amerikanischen, hauptsächlich über Fragen der inneren Sekretion, und sich damit einen Namen
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