Der Verdacht
Sie sollten diese ungemütliche Sache jetzt lieber sein lassen. Es tue nicht gut, kurz nach einer Operation, bei der es auf Tod und Leben gegangen sei, in einem alten ‹Life› zu blättern. Dieser Arzt da, fuhr er nach einer Weile fort und beschaute sich das Bild hypnotisiert von neuem, könne nicht der sein, den er kenne, weil der Betreffende während des Krieges in Chile gewesen sei. Also sei das Ganze Unsinn, das sehe doch ein jeder.
«In Chile, in Chile», sagte Bärlach. «Wann ist er denn zurückgekommen, dein Mann, der nicht in Frage kommt, Nehle zu sein?»
«Fünfundvierzig.»
«In Chile, in Chile», sagte Bärlach von neuem. «Und du willst mir nicht sagen, an wen dich das Bild erinnert?»
Hungertobel zögerte mit der Antwort. Die Angelegenheit war dem alten Arzt peinlich.
«Wenn ich dir den Namen sage, Hans», brachte er endlich hervor, «wirst du Verdacht gegen den Mann schöpfen.»
«Ich habe gegen ihn Verdacht geschöpft», antwortete der Kommissär.
Hungertobel seufzte. «Siehst du, Hans», sagte er, «das habe ich befürchtet. Ich möchte das nicht, verstehst du? Ich bin ein alter Arzt und möchte niemandem Böses getan haben. Dein Verdacht ist ein Wahnsinn. Man kann doch nicht auf eine bloße Fotografie hin einen Menschen einfach verdächtigen, um so weniger, als das Bild nicht viel vom Gesicht zeigt. Und außerdem war er in Chile, das ist eine Tatsache.»
Was er denn dort gemacht habe, warf der Kommissär ein.
Er habe in Santiago eine Klinik geleitet, sagte Hungertobel.
«In Chile, in Chile», sagte Bärlach wieder. Das sei ein gefährlicher Kehrreim und schwer zu überprüfen. Samuel habe recht, ein Verdacht sei etwas Schreckliches und komme vom Teufel.
«Nichts macht einen so schlecht wie ein Verdacht», fuhr er fort, «das weiß ich genau, und ich habe oft meinen Beruf verflucht. Man soll sich nicht damit einlassen. Aber jetzt haben wir den Verdacht, und du hast ihn mir gegeben. Ich gebe ihn dir gern zurück, alter Freund, wenn auch du deinen Verdacht fallenläßt; denn du bist es, der nicht von diesem Verdacht loskommt.»
Hungertobel setzte sich an des Alten Bett. Er schaute hilflos nach dem Kommissär. Die Sonne fiel in schrägen Strahlen durch die Vorhänge ins Zimmer. Draußen war ein schöner Tag, wie oft in diesem milden Winter.
«Ich kann nicht», sagte der Arzt endlich in die Stille des Krankenzimmers hinein: «Ich kann nicht. Gott soll mir helfen, ich bringe den Verdacht nicht los. Ich kenne ihn zu gut. Ich habe mit ihm studiert, und zweimal war er mein Stellvertreter. Er ist es auf diesem Bild. Die Operationsnarbe über der Schläfe ist auch da. Ich kenne sie, ich habe Emmenberger selbst operiert.»
Hungertobel nahm die Brille von der Nase und steckte sie in die rechte obere Tasche. Dann wischte er sich den Schweiß von der Stirne.
«Emmenberger?» fragte der Kommissär nach einer Weile ruhig. «So heißt er?»
«Nun habe ich es gesagt», antwortete Hungertobel beunruhigt. «Fritz Emmenberger.»
«Ein Arzt?»
«Ein Arzt.»
«Und lebt in der Schweiz?»
«Er besitzt die Klinik Sonnenstein auf dem Zürichberg», antwortete der Arzt. «Zweiunddreißig wanderte er nach Deutschland aus und dann nach Chile. Fünfundvierzig kehrte er zurück und übernahm die Klinik. Eines der teuersten Spitäler der Schweiz», fügte er leise hinzu.
«Nur für Reiche?»
«Nur für Schwerreiche.»
«Ist er ein guter Wissenschaftler, Samuel?» fragte der Kommissär.
Hungertobel zögerte. Es sei schwer auf seine Frage zu antworten, sagte er: «Er war einmal ein guter Wissenschaftler, nur wissen wir nicht recht, ob er es geblieben ist. Er arbeitet mit Methoden, die uns fragwürdig vorkommen müssen. Wir wissen von den Hormonen, auf die er sich spezialisiert hat, noch herzlich wenig, und wie überall in Gebieten, die sich die Wissenschaft zu erobern anschickt, tummelt sich allerlei herum. Wissenschaftler und Scharlatane, oft beides in einer Person. Was will man, Hans? Emmenberger ist bei seinen Patienten beliebt, und sie glauben an ihn wie an einen Gott. Das ist ja das Wichtigste, scheint mir, für so reiche Patienten, denen auch die Krankheit ein Luxus sein soll; ohne Glauben geht es nicht; am wenigsten bei den Hormonen. So hat er eben seine Erfolge, wird verehrt und findet sein Geld. Wir nennen ihn denn ja auch den Erbonkel –»
Hungertobel hielt plötzlich mit Reden inne, als reue es ihn, Emmenbergers Übernamen ausgesprochen zu haben.
«Den Erbonkel. Wozu diesen Spitznamen?» fragte
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