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Der Verdacht

Der Verdacht

Titel: Der Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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der Riese noch einmal. «Keiner weiß, außer dir und Hungertobel, daß ich hier war; unhörbar glitt ich, ein Schatten, durch die Korridore, zu Emmenberger, zu dir, keiner weiß, daß es mich gibt, nur die armen Teufel, die ich rette, eine Handvoll Juden, eine Handvoll Christen. Lassen wir die Welt Emmenberger begraben und lassen wir den Zeitungen die ehrenden Nekrologe, mit denen sie dieses Toten gedenken werden. Die Nazis haben Stutthof gewollt, die Millionäre diesen Spittel, andere werden anderes wollen. Wir können als einzelne die Welt nicht retten, das wäre eine ebenso hoffnungslose Arbeit wie die des armen Sisyphos; sie ist nicht in unsere Hand gelegt, auch nicht in die Hand eines Mächtigen oder eines Volkes oder in die des Teufels, der doch am mächtigsten ist, sondern in Gottes Hand, der seine Entscheide allein fällt. Wir können nur im einzelnen helfen, nicht im gesamten, die Begrenzung des armen Juden Gulliver, die Begrenzung aller Menschen. So sollen wir die Welt nicht zu retten suchen, sondern zu bestehen, das einzige wahrhafte Abenteuer, das uns in dieser späten Zeit noch bleibt.» Und sorgfältig, wie ein Vater ein Kind, legte der Riese den Alten in sein Bett zurück.
    «Komm, mein Äffchen», rief er und pfiff. Mit einem einzigen gewaltigen Sprung, winselnd und lallend, schnellte der Zwerg hervor und auf des Juden linke Schulter.
    «So ist's recht, mein Mörderchen», lobte ihn der Riese. «Wir zwei bleiben zusammen. Sind wir doch beide aus der menschlichen Gesellschaft gestoßen, du von Natur und ich, weil ich zu den Toten gehöre. Leb wohl, Kommissar, es geht auf eine nächtliche Reise in die große russische Ebene, es gilt, einen neuen düsteren Abstieg in die Katakomben dieser Welt zu wagen, in die verlorenen Höhlen jener, die von den Mächtigen verfolgt werden.»
    Noch einmal winkte der Jude dem Alten zu, dann griff er mit beiden Händen hinein ins Gitter, bog die Eisenstäbe auseinander und schwang sich zum Fenster hinaus.
    «Leb wohl, Kommissar», lachte er noch einmal mit seiner seltsam singenden Stimme, und nur seine Schultern und der mächtige nackte Schädel waren zu sehen, und an seiner linken Wange das greisenhafte Antlitz des Zwerges, während der fast gerundete Mond auf der andern Seite des gewaltigen Kopfs erschien, so daß es war, als trüge jetzt der Jude die ganze Welt auf den Schultern, die Erde und die Menschheit. «Leb wohl, mein Ritter ohne Furcht und Tadel, mein Bärlach», sagte er, «Gulliver zieht weiter zu den Riesen und zu den Zwergen, in andere Länder, in andere Welten, immerfort, immerzu. Leb wohl, Kommissar, leb wohl», und mit dem letzten ‹Leb wohl› war er verschwunden.
    Der Alte schloß die Augen. Der Friede, der über ihn kam, tat ihm wohl; um so mehr, da er nun wußte, daß in der leise sich öffnenden Türe Hungertobel stand, ihn nach Bern zurückzubringen.

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