Der verlorne Sohn
nieder.
»Ohnmächtig nur! Nicht wahr, Herr Doctor?« fragte er.
Der Arzt zuckte die Achsel, bückte sich nieder, befühlte den Hals des Knaben und antwortete:
»Todt!«
»Um Gotteswillen! Das wollen wir nicht befürchten!«
»Pah! Den Hals gebrochen!«
»Ist das gewiß und wirklich wahr?«
»Glauben Sie, daß ich ein Pfuscher bin, Herr Amtmann?«
Der Genannte legte dem Knaben in der Gegend des Herzens die Hand auf den dünnen Trikot-Stoff. Er fühlte nicht die mindeste Bewegung dieser Lebensmuskel.
»Wahrhaftig, er ist todt!« rief er. »Welch ein entsetzlicher Fall!«
Alle Anwesenden hörten es, und der Aufruhr, welcher jetzt entstand, war unbeschreiblich. Einige Damen fielen in Krämpfe oder hysterisches Lachen. Sie mußten entfernt werden. Der Bürgermeister, als Inhaber der höchsten Polizeigewalt im Städtchen, eilte herbei, gefolgt von dem anwesenden Schutzmann und Gensdarmen.
»Der Todesfall muß constatirt werden, gerichtlich constatirt!« sagte er. »Man hat nach dem Gerichtsarzte zu senden!«
Dadurch fühlte sich Doctor Werner beleidigt:
»Herr Bürgermeister,« sagte er, »meinen Sie vielleicht, daß ich einen Todten von einem Lebendigen nicht zu unterscheiden vermag?«
»So habe ich das nicht gemeint,« erklärte das Oberhaupt der Stadt. »Aber der Herr Amtmann wird auch sagen, daß ich hier meine Pflicht zu thun habe. Sie aber sind nicht Gerichtsarzt!«
»Ah, so halten Sie eine gerichtliche commission für nöthig?«
Bei diesen Worten des Arztes blickte der Bürgermeister betroffen empor.
»Ah,« sagte er, »so allerdings habe ich das nicht gemeint!«
»Wie sonst?«
»Ich meine nur, daß der Tod zu constatiren sei.«
»Dazu ist das Zeugniß eines jeden Arztes zureichend.«
»Außer es handelt sich um ein Verbrechen!«
Diese letzteren Worte hatte ein Herr gesagt, dem es gelungen war, sich durch die Menge herbei zu drängen. Die drei Herren blickten ihn an; sie kannten ihn nicht. Der Bürgermeister betrachtete ihn mit einem forschenden Blicke, zuckte die Achseln und fragte abweisend: »Sie meinen?«
»Daß nur im Falle eines Verbrechens eine gerichtliche Leichenschau nothwendig sein würde.«
»Das wissen wir auch. Dazu bedürfen wir keines fremden Rathes. Oder wollen Sie sagen, daß hier ein Verbrechen vorliege?«
»Ja,« nickte der Fremde.
»Herr, bedenken Sie, was Sie thun!«
»Herr Bürgermeister, ich weiß ganz genau, was ich sage.«
»Das scheint aber nicht der Fall zu sein. Wir Alle sind Zeugen des Ereignisses gewesen. Wir Alle haben gesehen und müssen gesehen haben, daß hier nur ein höchst unglückseliger Zufall vorliegt.«
»Ich denke, daß Sie sich irren,« sagte der Fremde in kaltem Tone.
»Herr, wer sind Sie?«
Es war still im Saale geworden. Alles schwieg, um der Unterhaltung zu lauschen. Auch die Künstler standen starr und lautlos, noch unter dem Einflusse des Schreckes. Der Riese war augenblicklich nüchtern geworden. Aller Augen waren auf den Fremden gerichtet. Er hatte rothes Haar, rothen Vollbart, trug die gewöhnliche Kleidung der dortigen Gegend, machte aber doch nicht den Eindruck, als ob er ein Mitglied der arbeitenden Klasse sei. Die Frage des Bürgermeisters machte ihn nicht im Geringsten verlegen. Er zuckte die Achseln, ganz so wie dieser vorhin, und antwortete: »Ich werde nachher die Ehre haben, mich zu legitimiren. In Gegenwart so vieler Zeugen habe ich das natürlich nicht nothwendig. Haben Sie gehört, was der unglückliche Knabe vor Beginn der Production sagte, Herr Bürgermeister?«
»Allerdings!«
»Und was ihm sein Gebieter antwortete?«
»Auch.«
»Der Knabe wollte sich nicht an der Pyramide betheiligen!«
»Es schien so!«
»Sein Herr aber zwang ihn!«
»Hm!«
»Das Kind besaß jedenfalls nicht die Uebung und Körperkraft, welche zu einer solchen Schaustellung unumgänglich nothwendig ist.«
»Was geht das uns an?«
»Ihnen jedenfalls wenigstens ebenso viel wie mir. Ich ersuche Sie, sich dieser sogenannten Künstler zu bemächtigen.«
»Was fällt Ihnen ein?«
»Nur das, was Ihnen bereits vor mir eingefallen sein sollte!«
»Herr!« braußte der Bürgermeister auf.
»Bitte, bleiben wir ruhig! Es versteht sich ganz von selbst, daß diese Leute unter die Anklage der fahrlässigen Tödtung zu stellen sind. Ich nehme an, daß dies auch Ihre Ansicht ist, Herr Amtmann?«
Dieser nickte zustimmend. Der Fremde fuhr fort:
»Wir Alle haben gesehen, daß dieser Chef der Künstlertruppe, welcher sich Bormann nennt, betrunken
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