Der verlorne Sohn
geben, um seinen Ärger hinab zu spülen, wie er sich ausdrückte, und trank so schnell und viel, daß ihm die beiden Anderen die Flasche endlich wegnahmen, da sie befürchteten, er möchte so betrunken werden, daß die Vorstellung nicht stattfinden könne.
Während dann die Frau sich an die Kasse setzte, begaben die Anderen sich hinauf, um ihre Flitter anzulegen.
In abgelegenen Gegenden ist es selten, daß sich einmal ›Künstler‹ sehen lassen; geschieht dies aber doch, dann ist diesen herumziehenden Wanderern fast immer ein zahlreicher Besuch gewiß. So auch hier.
Der Saal war nicht sehr groß. Er füllte sich nach kurzer Zeit, und die Frau wagte es sogar, einige kleine Silberstücke für heimlichen Gebrauch zu annectiren.
Da, wo sich sonst das Orchester öffnete, war heute ein Vorhang zu sehen, zwar nicht aus Meisterhand stammend, aber doch von Leinwand und mit hübschen, bunten Farben bemalt. Das Publikum, welches vor diesem Vorhange zu warten hatte, war ein ungeduldiges. Noch war die Zeit des Beginnes nicht gekommen, als man bereits durch Pochen, Klopfen und Strampeln den Anfang zu beschleunigen versuchte.
Die Herrschaften, welche auf den vorderen Bänken saßen, nahmen an dieser Demonstration allerdings nicht theil. Strampeln kann nur der Plebs. Sie aber, die Honoratioren des Ortes, die Angehörigen des Casino, wußten, wie man an öffentlichen Orten seine Distinction zu bewahren habe. Sie blieben ruhig, bis der heisere Ton einer Schelle ertönte und der Vorhang sich in die Höhe bewegte.
Man erblickte einen schwarz verhängten Tisch, auf welchem verschiedene Gegenstände, Büchsen, Gläser, Messer, Kugeln, lagen, mit denen die Künstler ihre Productionen begannen. Dann folgten Karten-und andere Kunststücke, bis im letzten Theile die eigentlichen Leistungen der Athletik beginnen sollten. Dieser Theil sollte, wie das Programm verkündete, mit der weltberühmten und erstaunlichen ›Pyramide‹ anfangen.
Der Knabe erschien, in glitzernde Tricots gekleidet. Er sollte, nach der Ankündigung, die Vorstellung durch seine eminenten Kautschukkünste beschließen. Der Eindruck, welchen er auf die Zuschauer machte, war ein recht guter.
»Der kleine Junge! Ein hübscher Knabe! Ein allerliebstes Kind!« konnte man flüstern hören. »Wie gut gewachsen! Wie blaß er aussieht! Er scheint sich vor dem Riesen zu fürchten!«
Dieser Letztere hatte während der ganzen Vorstellung eine auffallende Unsicherheit gezeigt. Er wankte stark; er taumelte sogar zuweilen, und schließlich hatte die Ansicht, daß er betrunken sei, im Publikum Wurzel geschlagen. Jetzt verkündete er mit beinahe lallender Stimme den Beginn der Pyramide.
Er stellte sich breitspurig auf, wankte aber.
»So steh doch fest!« hörte man ihm von dem Einen zuraunen.
Dies mochte dem Knaben Muth geben. Man hörte seine zwar nur halblaute, aber doch klare Stimme bitten:
»Oh, nicht da hinauf! Ich fürchte mich so sehr!«
Der Riese faßte ihn bei den Haaren, riß ihn hin und her und antwortete, auch ziemlich vernehmlich:
»Verfluchte Kröte! Soll ich Dich endlich todtschlagen? Hinauf mußt Du, und wenn Du zehnmal den Hals brichst!«
Und mit lauter Kommandostimme fügte er hinzu:
»Achtung! Eins! Zwei! Drei!«
Bei Eins und Zwei sprangen ihm seine Gefährten auf die Achseln. Bei Drei erfaßte er den Knaben und schnellte ihn empor. War’s sein Zorn oder seine Betrunkenheit oder auch Beides zugleich – er hatte zu viel Kraft angewendet. Der Knabe flog hoch bis zur Decke empor, ohne daß er von den Beiden ergriffen werden konnte.
Ein einziger Schrei, aber aus allen Kehlen, erscholl im Saale; dann that es einen lauten, fürchterlichen Krach. Der Kleine war aus dieser Höhe herabgestürzt, und zwar mit dem Kopfe auf das Geländer des Orchesters.
Einen Augenblick lang gab es die Stille des Todes. Dann aber gab es ein geradezu fürchterliches Durcheinander von Stimmen und Personen. Alle wollten nach der Stelle hin, wo der Knabe ohne Bewegung lag, und ein Jeder und Jede wollte der oder die Erste sein. Einige der vorn Sitzenden hatten die Geistesgegenwart, die Menge zurück zu drängen und mit lauter Stimme zur Ruhe zu ermahnen. Unter ihnen befand sich auch Doctor Werner, der bekannte Knappschafts-und Armen Arzt. Er näherte sich dem Knaben und that, als ob er ihn untersuche. In Wahrheit aber war es nur ein gleichgiltiger Blick, den er auf ihn warf.
Auch der Amtmann war anwesend. Er hatte sich herbeigedrängt und kniete vor dem Kleinen
Weitere Kostenlose Bücher