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Der Verschollene

Der Verschollene

Titel: Der Verschollene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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dem Manne am nächsten war, nicht. Stumm sah er zu, wie der Mann in seinem Buche las, die Blätter wendete, hie und da in einem andern Buche, das er immer mit Blitzesschnelle ergriff, irgend etwas nachschlug und öfters Notizen in ein Heft eintrug, wobei er immer überraschend tief das Gesicht zu dem Hefte senkte.

    Ob dieser Mann vielleicht ein Student war? Es sah ganz so aus, als ob er studierte. Nicht viel anders – jetzt war es schon lange her – war Karl zu Hause am Tisch der Eltern gesessen und hatte seine Aufgaben geschrieben, während der Vater die Zeitung las oder Bucheintragungen und Korrespondenzen für einen Verein erledigte und die Mutter mit einer Näharbeit beschäftigt war und hoch den Faden aus dem Stoffe zog. Um den Vater nicht zu belästigen, hatte Karl nur das Heft und das Schreibzeug auf den Tisch gelegt, während er die nötigen Bücher rechts und links von sich auf Sesseln angeordnet hatte.
    Wie still war es dort gewesen! Wie selten waren fremde Leute in jenes Zimmer gekommen! Schon als kleines Kind hatte Karl immer gerne zugesehen, wenn die Mutter gegen Abend die Wohnungstür mit dem Schlüssel absperrte. Sie hatte keine Ahnung davon, daß es jetzt mit Karl soweit gekommen war, daß er fremde Türen mit Messern aufzubrechen suchte.

    Und welchen Zweck hatte sein ganzes Studium gehabt! Er hatte ja alles vergessen; wenn es darauf angekommen wäre, hier sein Studium fortzusetzen, es wäre ihm sehr schwer geworden.
    Er erinnerte sich daran, daß er zu Hause einmal einen Monat
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    lang krank gewesen war – welche Mühe hatte es ihn damals gekostet, sich nachher wieder in dem unterbrochenen Lernen zurechtzufinden. Und nun hatte er außer dem Lehrbuch der englischen Handelskorrespondenz schon so lange kein Buch gelesen.

    "Sie, junger Mann", hörte sich Karl plötzlich angesprochen,
    "könnten Sie sich nicht anderswo aufstellen? Ihr Herüberstarren stört mich schrecklich. Um zwei Uhr in der Nacht kann man doch schließlich verlangen, auf dem Balkon ungestört arbeiten zu können. Wollen Sie denn etwas von mir? "

    "Sie studieren?" fragte Karl.

    "Ja, ja", sagte der Mann und benutzte dieses für das Lernen verlorene Weilchen, um unter seinen Büchern eine neue Ordnung einzurichten.

    "Dann will ich Sie nicht stören", sagte Karl, "ich gehe überhaupt schon ins Zimmer zurück. Gute Nacht. "

    Der Mann gab nicht einmal eine Antwort, mit einem plötzlichen Entschlusse hatte er sich nach Beseitigung dieser Störung wieder ans Studieren gemacht und stützte die Stirn schwer in die rechte Hand.

    Da erinnerte sich Karl knapp vor dem Vorhang daran, warum er eigentlich herausgekommen war, er wußte ja noch gar nicht, wie es mit ihm stand. Was lastete nur so auf seinem Kopf?Er griff hinauf und staunte, da war keine blutige Verletzung, wie er im Dunkel des Zimmers gefürchtet hatte, es war nur ein noch immer feuchter turbanartiger Verband. Er war, nach den noch
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    hie und da hängenden Spitzenüberresten zu schließen, aus einem alten Wäschestück Bruneldas gerissen und Robinson hatte ihn wohl flüchtig Karl um den Kopf gewickelt. Nur hatte er vergessen, ihn auszuwinden, und so war während Karls Bewußtlosigkeit das viele Wasser das Gesicht herab und unter das Hemd geronnen und hatte Karl einen solchen Schrecken eingejagt.

    "Sie sind wohl noch immer da?" fragte der Mann und blinzelte herüber.

    "Jetzt gehe ich aber schon wirklich", sagte Karl, "ich wollte hier nur etwas anschauen, im Zimmer ist es ganz finster."

    "Wer sind Sie denn?" sagte der Mann, legte den Federhalter in das vor ihm geöffnete Buch und trat an das Geländer. "Wie heißen Sie? Wie kommen Sie zu den Leuten? Sind Sie schon lange hier? Was wollen Sie denn anschauen? Drehen Sie doch Ihre Glühlampe dort auf, damit man Sie sehen kann. "

    Karl tat dies, zog aber, ehe er antwortete, noch den Vorhang der Tür fester zu, damit man im Innern nichts merken konnte.
    "Verzeihen Sie", sagte er dann im Flüsterton, "daß ich so leise rede. Wenn mich die drinnen hören, habe ich wieder einen Krawall. "

    "Wieder?" fragte der Mann.

    "Ja", sagte Karl, "ich habe ja erst abend einen großen Streit mit ihnen gehabt. Ich muß da noch eine fürchterliche Beule haben. " Und er tastete hinten seinen Kopf ab.

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    "Was war denn das für ein Streit?" fragte der Mann und fügte, da Karl nicht gleich antwortete, hinzu: "Mir können Sie ruhig alles anvertrauen, was Sie gegen diese Herrschaften auf dem Herzen haben. Ich hasse sie nämlich alle

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