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Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Titel: Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink
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sei die Marke mit der Pyramide doch wertvoll? Am Ende bekam ich siebzig Mark. Ich fühlte mich betrogen, aber es war mir gleichgültig.
    Nicht nur ich hatte Reisefieber. Zu meinem Erstaunen war auch Hanna schon Tage vor der Reise unruhig. Sie überlegte hin und her, was sie mitnehmen sollte, und packte die Satteltaschen und den Rucksack, die ich für sie besorgt hatte, um und um. Als ich ihr auf der Karte die Route zeigen wollte, die ich mir überlegt hatte, wollte sie nichts hören und nichts sehen. »Ich bin jetzt zu aufgeregt. Du machst das schon richtig, Jungchen.«
    Wir brachen am Ostermontag auf. Die Sonne schien, und sie schien vier Tage lang. Morgens war es frisch, und tags wurde es warm, nicht zu warm fürs Fahrradfahren, aber warm genug zum Picknicken. Die Wälder waren Teppiche in Grün, mit gelbgrünen, hellgrünen, flaschengrünen, blau- und schwarzgrünen Tupfern, Flecken und Flächen. In der Rheinebene blühten schon die ersten Obstbäume. Im Odenwald gingen gerade die Forsythien auf.
    Oft konnten wir nebeneinander fahren. Dann zeigten wir uns, was wir sahen: die Burg, den Angler, das Schiff auf dem Fluß, das Zelt, die Familie im Gänsemarsch am Ufer, den amerikanischen Straßenkreuzer mit offenem Verdeck. Wenn wir eine andere Richtung und Straße nahmen, mußte ich vorausfahren; sie wollte sich um Richtungen und Straßen nicht kümmern. Sonst fuhr, wenn der Verkehr zu dicht war, mal sie hinter mir, mal ich hinter ihr. Sie hatte ein Fahrrad mit verdeckten Speichen und verdecktem Tretwerk und Zahnrad und trug ein blaues Kleid, dessen weiter Rock im Fahrtwind flatterte. Ich brauchte eine Weile, bis ich nicht mehr fürchtete, der Rock werde in die Speichen oder ins Zahnrad geraten und sie werde stürzen. Danach sah ich sie gerne vor mir herfahren.
    Wie hatte ich mich auf die Nächte gefreut. Ich hatte mir vorgestellt, daß wir uns lieben, einschlafen, aufwachen, uns wieder lieben, wieder einschlafen, wieder aufwachen und so fort, Nacht für Nacht. Aber nur in der ersten Nacht bin ich noch mal aufgewacht. Sie lag mit dem Rücken zu mir, ich beugte mich über sie und küßte sie, und sie drehte sich auf den Rücken, nahm mich in sich auf und hielt mich in ihren Armen. »Mein Jungchen, mein Jungchen.« Dann schlief ich auf ihr ein. Die anderen Nächte schliefen wir durch, müde vom Fahren, von Sonne und Wind. Wir liebten uns am Morgen.
    Hanna überließ mir nicht nur die Wahl der Richtungen und Straßen. Ich suchte die Gasthöfe aus, in denen wir über Nacht blieben, trug uns als Mutter und Sohn in die Meldezettel ein, die sie nur noch unterschrieb, und wählte auf der Speisekarte nicht nur für mich, sondern auch für sie das Essen aus. »Ich mag’s, mich mal um nichts zu kümmern.«
    Den einzigen Streit hatten wir in Amorbach. Ich war früh aufgewacht, hatte mich leise angezogen und aus dem Zimmer gestohlen. Ich wollte das Frühstück hochbringen und wollte auch schauen, ob ich schon ein offenes Blumengeschäft finde und eine Rose für Hanna kriege. Ich hatte ihr einen Zettel auf den Nachttisch gelegt. »Guten Morgen! Hole Frühstück, bin gleich wieder zurück« – oder so ähnlich. Als ich wiederkam, stand sie im Zimmer, halb angezogen, zitternd vor Wut, weiß im Gesicht.
    »Wie kannst du einfach so gehen!«
    Ich setzte das Tablett mit Frühstück und Rose ab und wollte sie in die Arme nehmen. »Hanna …«
    »Faß mich nicht an.« Sie hatte den schmalen ledernen Gürtel in der Hand, den sie um ihr Kleid tat, machte einen Schritt zurück und zog ihn mir durchs Gesicht. Meine Lippe platzte, und ich schmeckte Blut. Es tat nicht weh. Ich war furchtbar erschrocken. Sie holte noch mal aus.
    Aber sie schlug nicht noch mal. Sie ließ den Arm sinken und den Gürtel fallen und weinte. Ich hatte sie noch nie weinen sehen. Ihr Gesicht verlor alle Form. Aufgerissene Augen, aufgerissener Mund, die Lider nach den ersten Tränen verquollen, rote Flecken auf Wange und Hals. Aus ihrem Mund kamen krächzende, kehlige Laute, ähnlich dem tonlosen Schrei, wenn wir uns liebten. Sie stand da und sah mich durch ihre Tränen an.
    Ich hätte sie in meine Arme nehmen sollen. Aber ich konnte nicht. Ich wußte nicht, was tun. Bei uns zu Hause weinte man nicht so. Man schlug nicht, nicht mit der Hand und erst recht nicht mit einem Lederriemen. Man redete. Aber was sollte ich sagen?
    Sie machte zwei Schritte zu mir, warf sich an meine Brust, schlug mit den Fäusten auf mich ein, klammerte sich an mich. Jetzt konnte ich sie

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