Cinderella auf Sylt - Bieling, E: Cinderella auf Sylt
Sylt, ich komme!
»Sehr geehrte Zug-Gäste, in wenigen Minuten erreichen wir den Bahnhof von Westerland.« Cinderella blickte aus dem Fenster des Zugabteils, aber sie konnte einfach nichts erkennen. Weder das Meer noch die endlos langen Sandstrände. Draußen war es finster, und auch der Mond schien sich an diesem Sommertag frei genommen zu haben. Nur ab und zu huschten ein paar Lichter vorbei, die kurz darauf im Dunkel der Nacht wieder verschwanden.
Tommy schlief seelenruhig und fest. Sein Kopf lag auf ihren Schoß gebettet, und in seinen Armen hielt er Lumpi, seinen Plüschhasen. Behutsam zog Cinderella das liebgewonnene Stofftier aus dem Klammergriff ihres Sohnes. Lumpi sollte beim Aussteigen keinesfalls verloren gehen. Nicht jetzt, nachdem sie ihn unter Einsatz ihrer ganzen Kräfte aus dem Abfluss ihres Toilettenbeckens geborgen hatte. Cinderella musste bei diesem Gedanken schmunzeln. Tommy hatte doch tatsächlich versucht, das hilflose Häschen hinunterzuspülen. Und das nur, weil ihre Stiefschwester ihm erzählt hatte, dass Jungen, die mit Kuscheltieren spielen, ewig klein bleiben und später als Gartenzwerge arbeiten müssen. Dabei war das noch eine von Sandras harmlosesten Gemeinheiten.
Cinderella betrachtete Lumpi genauer. Sie hatte ihn kurz vor Reiseantritt einer Intensiv-Wäsche unterzogen, um etwaige Reste seines unfreiwilligen Tauchganges zu beseitigen. Jetzt strahlte er wieder im Taubenblau und roch frisch wie der Frühling. Nur seine Ohren schienen etwas kürzergeworden zu sein. Lumpi war also gewissermaßen zum Kurzohrhasen mutiert und ebenso reif für die Insel wie sie.
Der Zug wurde langsamer, und in die Abteile kehrte zunehmend Leben ein. Cinderella rüttelte Tommy wach. »He, kleine Schlafmütze, aufwachen.« Er streckte sich und gähnte. »Mama, sind wir auf der Insel?«
Sie nickte, ohne aufzublicken, konzentriert darauf, Lumpi in eine der Reisetaschen zu quetschen. Tommy, der fast die ganze Fahrt verschlafen hatte, wippte von einem Bein aufs andere.
»Mama, ich muss mal.«
»Was, jetzt?«
»Ja, ganz doll.«
Cinderella holte tief Luft und ignorierte die Information über das gerade sehr unpassende Bedürfnis ihres Sohnes. Der Zug ruckte unterdessen und blieb stehen. »Werte Gäste, wir haben soeben den Bahnhof von Westerland erreicht. Wir hoffen, dass sie eine angenehme Fahrt hatten, und wünschen ihnen einen schönen Aufenthalt vor Ort.«
»Mama, ich muss wirklich ganz doll«, quengelte er weiter.
Cinderella warf ihm einen bösen Blick zu. »Später, Tommy.«
»Ich will aber jetzt aufs Klo.«
Dabei stampfte er mit seinem Fuß auf. Cinderella griff Tommy am Arm und zog ihn zu sich heran. Aber noch ehe sie ihm einen Vortrag über »Ich-will-Sätze« halten konnte, brachte sich eine der älteren Damen ein, die ihr seit Stunden stumm gegenübersaßen.
»Da vorne, junge Frau, da sind die Toiletten«, sagte sie und zeigte mit ihrem Gehstock in Richtung Örtlichkeit …
Das fehlt mir gerade noch,
dachte Cinderella.
Wahrscheinlich würde Tommy ewig brauchen, der Zugweiterfahren und sie letztendlich irgendwo im Nirgendwo landen. Nein! Das wollte sie nicht riskieren. Nicht mit einhundertsiebenundachtzig Euro im Gepäck und den geographischen Kenntnissen eines Erdkunde-Muffels.
»Vielen Dank, aber bis zur Bahnhofstoilette hält er noch durch.«
Cinderella nahm ihr Gepäck, verabschiedete sich und drückte Tommy aus dem Abteil hinaus. Die älteren Damen folgten mit einem Kopfschütteln.
Wahrscheinlich waren sie früher bessere Mütter gewesen. Aber sie hatten bestimmt auch keinen Mann wie Mike – einen singenden Berufsträumer, der sich im Nebenzimmer mit ihrer jüngeren Schwester vergnügte. Als wenn Cinderella das nie gemerkt hätte.
Mit vier übergroßen Reisetaschen und einem bockigen Fünfjährigen im Schlepp drängte sie sich zu einer der Zugtüren. Gleich würde sie das erste Mal auf den Boden einer Insel treten – ihrer Trauminsel. Cinderella schob Tommy vorneweg die Tür hinaus. Sie konnte es kaum erwarten.
Sylt, ich komme!
Voller Andacht trat sie auf den Bahnsteig und wurde vom Sturm erfasst. Erschrocken ließ sie die Taschen fallen, um ihren Sohn festzuhalten. Was zur Folge hatte, dass der Wind unter ihr Kleid fuhr und es in die Höhe riss. Wie ein bunter Fallschirm flatterte es vor ihrem Gesicht hin und her. Cinderella hatte keine Wahl. Tommy oder die Zur-Schaustellung ihrer Unterwäsche. Sie umklammerte schützend ihr Kind und blickte sich um. Irgendwo musste es doch
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