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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
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Quadratmeilen flachen Landes umschloß, darunter fruchtbare
Wiesen, wohltuende Quellen und herrliche Flüsse, und alle Arten von Tieren für
Jagd und Spiel. In der Mitte von alldem stand ein kostbares Haus für allerlei
Vergnügungen, das von Ort zu Ort bewegt werden konnte.
    Hier weilte er in den Monaten
Juni, Juli und August, an dessen achtem und zwanzigstem Tag er sich an einen
anderen Ort begab, um in folgender Weise ein Opfer zu bringen:
    Er hat eine Herde oder ein
Rudel von Hengsten und Stuten, ungefähr zehntausend, alle weiß wie Schnee. Von
der Milch der Stuten darf niemand trinken, es sei denn, er wäre vom Blute
Dschingis Khans. Ja, die Tataren haben vor diesen Tieren große Ehrfurcht, weder
wagt man es, ihren Weg zu kreuzen, noch vor ihnen zu gehen. Den Anweisungen
seiner Astrologen oder Zauberer entsprechend, pflegt Kublai Khan am achten und
zwanzigsten Tage des August die Milch dieser Stuten mit eigenen Händen in die
Luft und auf die Erde zu schütten und zu gießen, um den Geistern und Göttern,
die sie verehren, Nahrung zu geben, damit sie Männer, Frauen, Tiere, Vögel,
Getreide und andere Dinge, die aus der Erde wachsen, erhalten mögen.«
     
    Samuel
Purchas, Purchas His Pilgrimage, 1614, 4. Buch, Kapitel 13, Seite 415.

Acht Im nachhinein versuchte ich immer wieder, mir über die Vorgänge in den paar
Sekunden zwischen Annas Klopfen und ihrem ersten Satz Klarheit zu verschaffen.
In einem unterirdischen Kanal meines Bewußtseins mußte ihr Bild schon
geschwommen sein, eine verblichene Fotografie, die unbeachtet auf den Abwässern
getrieben war, bis das Modell meine Kammer betrat.
    Es war mir, als hätte ich
vorher mehrmals von ihr geträumt, aber jeden Morgen den Traum wieder vergessen.
Gleichzeitig gewann ich den Eindruck, daß ihr nichts fremd schien in meiner
Kammer, daß sie sich darin bewegte wie jemand, der schon oft hiergewesen war.
Die Art, wie sie »Ich hoffe, du nicht« sagte, vermittelte mir das Gefühl, mit
größter Selbstverständlichkeit in eine Verschwörung einbezogen zu werden, von
der ihr Geliebter nicht das geringste ahnte.
    In Wahrheit war es wohl sie,
die nicht das geringste ahnte von meinen Phantasien, von der Verwandlung des
Türstocks, unter den sie getreten war, in einen Rahmen für das Wunschbild eines
Mannes, den gerade die Erinnerung an ein nie geführtes Leben gestreift hatte.
Meine Zukunft erschien mir mit einem Mal nicht mehr als Straße, sondern als
Meer, dessen Wogen imstande wären, diese Frau in jeden Hafen der Welt zu tragen.
Annas Wappen, im Katalog meiner geheimen Heraldik: a painted ship upon a
painted ocean.
    Was mir jetzt, in der Distanz
von nahezu einem halben Jahr, immer noch kaum erklärbar ist, stürzte mich im
Moment des Erlebens in Verwirrung. Anna elektrisierte mich, mein Körper kam mir
vor wie ein Froschschenkel in einer galvanistischen Versuchsanordnung.
    Ich zuckte.
    Die Situation war paradox.
Während ich im Begriff war, den Kopf zu verlieren, kämpfte ich darum, ihn zu
bewahren und kühl zu halten, um in der Lage zu sein, das Richtige zu tun. Wenn
ich weiter dasaß wie ein vom Schlag gerührter Pensionist, würden sich Anna und
ihr Student verabschieden, und zwar für alle Zeiten.
    So saßen wir einander
gegenüber, eine Heuschrecke, die fressen, und ein galvanisierter toter Frosch,
der geküßt werden wollte. Zwischen uns die grünäugige Prinzessin. Wenn ich sie
wiedersehen wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als der Heuschrecke ihr
Futter zu geben.
    »Nein«, sagte ich endlich,
nachdem ein erster Sprechversuch keinen Ton hervorgebracht und ich mir schon
überlegt hatte, ob ich mir wie der Ancient Mariner in die Hand beißen und mein
Blut saugen sollte, um mich wieder artikulieren zu können, doch ein Schluck
kalter Kaffee tat’s auch, »nein, Ihr Freund stört nicht. Und Sie natürlich auch
nicht. Setzen Sie sich doch.«
    »Danke. Ich heiße Anna.« Sie
nahm die beiden Bücher von der Sitzfläche des einzigen noch freien Stuhls und
stellte sie ins Regal zurück, genau dorthin, wo sie hingehörten. »Darf ich
rauchen?« Schon hatte sie die Packung aus ihrer Jackentasche gezogen und sich
eine angezündet. Ruhig dazusitzen entsprach wohl nicht ihrer Art, sie rutschte
auf dem Stuhl hin und her, ihr rechter Fuß schlug den Takt zu einer Musik, die
nur sie hörte. Ich schaute ihr zu, wie sie rauchte. Zum ersten Mal in meinem
Leben, dachte ich, schaue ich einem Menschen beim Rauchen zu. Ihr Blick fiel
auf meine Hände — ich hielt immer

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