Der weite Weg nach Hause
es schweigend. Der Eigeruch erinnerte Lev an den schwefligen Frühling in Jor, wohin er mit Marina gefahren war, für den Fall, dass die Natur heilen könnte, was der Mensch endgültig aufgegeben hatte. Marina hatte ihren Körper gehorsam in das schaumige Wasser getaucht, hatte dagelegen und beobachtet, wie die Störchin in ihr hohes Nest zurückkehrte, und zu Lev gesagt: »Wenn wir doch Störche wären.«
»Warum sagst du das?« hatte Lev gefragt.
»Weil man nie Störche sterben sieht. Es ist, als stürben sie nicht.«
Wenn wir doch Störche wären.
Auf den Knien der Frau war eine saubere Baumwollserviette ausgebreitet, und mit ihren weißen Händen strich sie sie glatt und packte Roggenbrot und etwas Salz aus.
»Ich heiße Lev«, sagte Lev.
»Ich heiße Lydia«, sagte die Frau. Und sie schüttelten einander die Hand, Lev hielt in seiner noch das zusammengeknüllte Taschentuch, und Lydias war ganz rau vom Salz und roch nach Ei, und dann fragte Lev: »Was haben Sie in England vor?«, undLydia sagte: »Ich habe ein paar Vorstellungsgespräche für eine Stelle als Übersetzerin.«
»Das klingt vielversprechend.«
»Hoffentlich. Ich habe an der Schule 237 in Yarbl Englisch unterrichtet, deshalb spreche ich es fließend.«
Lev schaute Lydia an. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, wie sie vor einer Klasse stand und Wörter an die Tafel schrieb. Er sagte: »Aber wieso verlassen Sie dann unser Land, wenn Sie an der Schule 237 in Yarbl eine gute Stelle hatten?«
»Ach«, sagte Lydia, »ich war den Blick aus meinem Fenster so leid. Jeden Tag, im Sommer wie im Winter, sah ich auf den Schulhof und den hohen Zaun und den Wohnblock dahinter, und ich fing an, mir auszumalen, dass ich das alles noch im Sterben sehen würde, und das wollte ich nicht. Sie verstehen sicher, was ich meine?«
Lev nahm seine Lederkappe ab und fuhr sich mit den Fingern durch sein dichtes graues Haar. Er sah, wie Lydia sich für einen Moment zu ihm hindrehte und ihm sehr ernst in die Augen blickte. Er sagte: »Ja, das verstehe ich.«
Dann schwiegen beide, während Lydia ihr hart gekochtes Ei aß. Sie kaute sehr leise. Als sie aufgegessen hatte, sagte Lev: »Mein Englisch ist gar nicht so schlecht. Ich habe in Baryn Stunden genommen, aber mein Lehrer meinte, meine Betonung sei nicht besonders gut. Darf ich ein paar Wörter sagen, und Sie sagen mir, ob ich sie korrekt ausspreche?«
»Ja, natürlich«, sagte Lydia.
Lev sagte auf Englisch: »Herrlich. Entschuldigung. Ich bin legal. Wie viel kostet das, bitte? Vielen Dank. Was können Sie für mich tun?«
»Was kann ich für Sie tun«, verbesserte Lydia.
»Was kann ich für Sie tun«, wiederholte Lev.
»Fahren Sie fort«, sagte Lydia.
»Storch«, sagte Lev. »Storchennest. Regen. Ich habe mich verirrt. Ich brauche einen Übersetzer. Bier und Bier.«
»Bier und Bier?« sagte Lydia. »Nein, nein. Sie meinen wohl ›bye-bye‹, auf Wiedersehen.«
»Nein«, sagte Lev. »Bier und Bier. Familienpension, ziemlich billig.«
»Ach ja, richtig. B & B, die Frühstückspensionen.«
Lev konnte jetzt sehen, wie es hinter dem Fenster immer dunkler wurde, und er dachte daran, wie die Dunkelheit auf immer dieselbe Weise in sein Dorf gekommen war, aus derselben Richtung, über dieselben Bäume, ob früh oder spät, ob im Sommer, Winter oder Frühling, sein ganzes Leben lang. So wie dort in Auror würde der Einbruch der Dunkelheit − in Levs Herz − für immer aussehen.
Und deshalb erzählte er Lydia, dass er aus Auror komme, in der Baryner Sägemühle gearbeitet habe, bis die vor zwei Jahren schloss, und dass er seitdem überhaupt keine Arbeit mehr gefunden habe und seine Familie − seine Mutter, seine fünfjährige Tochter und er − von dem Geld lebe, das seine Mutter mit dem Verkauf von Schmuck aus Blech verdiene.
»Oh«, sagte Lydia. »Wie erfinderisch, Schmuck aus Blech zu machen.«
»Ja, schon«, sagte Lev. »Aber es reicht nicht.«
In seinem Stiefel steckte eine kleine Flasche Wodka. Er zog die Flasche heraus und nahm einen tiefen Schluck. Lydia aß weiter ihr Roggenbrot. Lev wischte sich den Mund mit dem roten Taschentuch ab und sah, dass sein Gesicht sich in der Fensterscheibe spiegelte. Er schaute weg. Seit Marinas Tod mochte er sein Spiegelbild nicht mehr, denn stets erblickte er darin nur seine Schuld, selbst noch am Leben zu sein.
»Warum hat die Sägemühle in Baryn geschlossen?«, fragte Lydia.
»Ihnen gingen die Bäume aus«, sagte Lev.
»Wie furchtbar«, sagte Lydia. »Was
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