Der weite Weg nach Hause
einem gelben Glas und Rosinenbrotmit Rosenblütenmarmelade servieren. Sie würde am Küchentisch ihre Schulaufgaben machen, danach hinaus auf die Dorfstraße von Auror laufen, um ihre Freunde zu treffen, und sie würden mit den Ziegen und Hühnern im Staub spielen.
»Mir fehlt meine Tochter schon jetzt«, sagte Lev zu Lydia.
Als der Bus die Grenze zwischen Deutschland und Holland überquerte, hatte Lev sich längst allem ergeben: seinem schmalen Platz am Fenster; dem ewigen Summen der Klimaanlage; der stillen Anwesenheit von Lydia, die ihm Eier und getrocknete Früchte und Schokoladenstückchen anbot; dem Geruch und den Stimmen der anderen Reisenden; dem Chemiegestank der Bordtoilette; dem Gefühl, langsam große Entfernungen zurückzulegen, immer in eine Richtung.
Während Lev die flachen Felder und die schimmernden Pappeln, die Kanäle und Windmühlen und Dörfer und grasenden Tiere der Niederlande vorbeiziehen sah, fühlte er sich so friedlich und ruhig, als wäre der Bus inzwischen sein Leben und niemand würde von ihm verlangen, die Starre dieses Busdaseins jemals zu beenden. Er wünschte sich, Europa wäre größer, so dass er noch viele Tage bei seinen Landschaften verweilen könnte, bis irgendetwas in ihm sich veränderte, bis hart gekochte Eier und der Anblick von Vieh auf grünen Weiden ihn anödeten und der Wille, sein Ziel zu erreichen, wieder in ihm erwachte.
Er wusste, dass diese wachsende Apathie gefährlich war. Er wünschte sich, sein bester Freund Rudi wäre bei ihm. Rudi gab nie klein bei, und er hätte sich auch dem Opium der dahinziehenden Kilometer nicht ergeben. »Das Leben ist nur ein System «, hatte Rudi ihn häufig erinnert. »Es kommt allein darauf an, es zu knacken.« Beim Schlafen lag Rudi zusammengekrümmt da und hatte die Fäuste, wie ein Boxer, vor der Brust geballt. Wenn er aufwachte, sprang er hoch und stieß das Bettzeugbeiseite. Sein wildes dunkles Haar leuchtete mit dem ihm eigenen unbesiegbaren Glanz. Er liebte Wodka und Kino und Fußball. Er träumte davon, ein, wie er es nannte, »ernstzunehmendes Auto« zu besitzen. Im Bus hätte Rudi Lieder gesungen und im Gang Volkstänze aufgeführt und mit anderen Reisenden gehandelt. Er hätte widerstanden .
Wie Lev war Rudi Kettenraucher. Nach der Schließung der Sägemühle hatten sie einmal gemeinsam eine rauchgeschwängerte Fahrt zur fernen Stadt Glic unternommen, mitten in der purpurnen Kälte des Winters, als die Sonne tief zwischen den kahlen Bäumen hing und das Eis auf den Schienen wie ein diamantener Überzug aussah und Rudis Taschen randvoll mit Schwarzgeld waren und in seinem Koffer elf in Stroh gebettete Wodkaflaschen lagen.
Das Gerücht von einem zum Verkauf stehenden amerikanischen Auto, einem Chevrolet Phoenix, hatte Rudi in Auror erreicht. Hingerissen beschrieb Rudi dieses Auto und nannte es »Tschewi«. Er sagte, der Tschewi sei blau und weiß und chromverziert und habe erst 380 000 Kilometer auf dem Buckel und er werde nach Glic reisen und ihn anschauen, und wenn er den Besitzer im Preis herunterhandeln könne, dann werde er ihn verdammt noch mal kaufen und nach Hause fahren. Die Tatsache, dass Rudi vorher noch nie ein Auto gefahren hatte, kümmerte ihn überhaupt nicht. »Wieso auch?«, sagte er zu Lev. »In der Sägemühle habe ich jeden einzelnen Scheißtag meines Lebens einen Gabelstapler gefahren. Fahren ist Fahren. Und bei amerikanischen Wagen musst du dich nicht mal um Gänge kümmern. Du haust einfach den Knüppel in die ›D-for-drive‹-Stellung, und los geht’s.«
Im Zug war es heiß gewesen, da ein dickes Heizrohr direkt unter den Sitzen entlanglief. Lev und Rudi hatten ein Abteil für sich. Sie stopften ihre Schafwollmäntel und Pelzmützen ins Gepäcknetz und öffneten den Wodkakoffer und hörten Musik aus einem winzigen, scheppernden Radio. Der heiße Wodkamiefim Waggon war herrlich und verrückt. Bald schon fühlten sie sich so verwegen wie Söldner. Als der Schaffner kam, küssten sie ihn auf beide Wangen.
Beim Aussteigen in Glic gerieten sie in einen Schneesturm, aber ihr Blut war noch heiß, und so kam der Schnee ihnen köstlich vor, als würde die Hand eines jungen Mädchens ihre Gesichter streicheln, und sie stolperten lachend durch die Straßen. Inzwischen brach die Nacht herein, und Rudi verkündete: »In der Scheißdunkelheit gucke ich mir den Tschewi nicht an. Ich möchte ihn strahlen sehen.« Also machten sie beim ersten bescheidenen Gasthaus, das sie fanden, halt und stillten ihren
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