Der Widerstand: Demi-Monde: Welt außer Kontrolle 2 (German Edition)
glatten Dachpfannen suchten, spürte sie, wie ihre Finger – aber auch andere exponierte Teile ihres Körpers – bereits steif und taub vor Kälte wurden.
Da sie nicht schwindelfrei war – deshalb hatte sie es auch nie geschafft, über die zweite Ebene des Eichelturms hinauszukommen –, versuchte sie, nicht auf das Kopfsteinpflaster dreißig Meter unter sich zu schauen. Fast hätte sie verzagt. Sie würde es unmöglich schaffen, über das Dach auf das andere Haus zu klettern. Die Dachpfannen waren zu rutschig und das Dach zu steil. Doch dann hatte sie einen Geistesblitz. Sie stützte sich gegen eine Dachrinne und feuerte auf die Pfannen, sodass die Holzbalken darunter zum Vorschein kamen. Dann benutzte sie diese wie die Sprossen einer Leiter, um hinaufzuklettern. Als sie die Hälfte des Weges geschafft hatte, steckte der Mann, der genau darunter wohnte, den Kopf durch eins der Löcher. Es war CitiZen Drumont, ihr gottverfluchter Vermieter, und er sah nicht gerade glücklich aus. Entsetzt sah er mit an, wie die halb nackte Odette sich einen Weg über das bahnte, was von seinem Dach übrig geblieben war.
»CitiZen Aroca? Was zum Teufel machst du da? Du hast mir fast den Kopf weggepustet. Und wer zahlt mir jetzt das kaputte Dach?«
»Frag die Quizzies. Schließlich hast du sie gerufen!«
»Aber nur, weil du die Revolution verraten hast.« Er holte eine riesige Muskete hervor und zielte auf Odette.
Odette fackelte nicht lange. Sie schoss ihm eine Kugel in den Kopf. Es tat ihr nicht leid. CitiZen Drumont war ein widerwärtiger Kerl, der ihr das Leben zur Hölle gemacht hatte mit seinen ständigen Forderungen, ihm seine Miete für das miese kleine Zimmer zu bezahlen.
Mal sehen, wie du sie jetzt eintreibst, du Arsch!
TEIL I Paris
und die Bastille
1
Indoctrans Hauptquartier: Fort Jackson
Reale Welt: 3. August 2018
Ich traf meinen Gastgeber und die übrigen Gäste beim Frühstück und sehe mich nun genötigt, Bericht darüber zu erstatten, dass ich sie wie auch mich selbst sehr verändert fand. Doch während meine eigenen Fähigkeiten auf höchst befriedigende Art verfeinert worden waren, hatten sich ihre offenkundig verschlechtert. Als eingefleischter Wissenschaftler führte ich eine umfassende Prüfung der Instrumentierung Frankensteins durch und sehe mich daher jetzt in der Lage, eine überzeugende Hypothese bezüglich des Ursprungs dieser wundersamen Wandlungen aufzustellen. Das gewaltige elektrische Feld, das von dem Einschlag des Meteors auf der Erde erzeugt wurde, hatte allen Anwesenden im Haus einen gewaltigen Energieschub versetzt, der wiederum eine fundamentale Metamorphose auslöste. Alle Bewohner sind von physischen, psychologischen, und ich bin geneigt zu sagen, auch taxonomischen Mutationen betroffen. Am negativsten wirkten sie sich bei Sir Augustus Bole aus, der den Rest der Anwesenden extrem aggressiv anstarrte. Er war auffallend blass und klagte unentwegt darüber, dass die winterliche Sonne seine Haut versenge. Er ging sogar so weit, einen Bediensteten zu bitten, ihm eine getönte Sonnenbrille zu bringen, um seine Augen vor der blendenden Sonne zu schützen.
Auszug aus dem Tagebuch von Percy Cavor vom 1. Dezember 1795
Obwohl es kurz nach Mittag war, herrschte in Septimus Boles Büro im Hauptquartier von INDOCTRANS tiefste Dunkelheit. Die schweren, dicht geschlossenen Vorhänge schirmten den Raum hermetisch gegen das sonnige Tageslicht ab. Keine Lampe brannte, allein der ferne, gedämpfte Lärm des Verkehrs zehn Stockwerke unter seinem Büro bezeugte, dass er noch im Land der Lebenden weilte. Bole liebte die Finsternis, und er hasste die Sonne, vor allem, wenn er sich in der Gewalt der Schatten befand. Unruhig und gequält saß er allein im Dunkeln, betastete den Remington-Revolver, der auf seinem Schreibtisch lag, und dachte daran, welche Erleichterung es wäre, sich eine Kugel – eine silberne Kugel – in den Kopf zu schießen.
Die Schatten.
Es war die Zeit, in der die Verantwortung, die die Familie Bole vor so vielen Jahren übernommen hatte – übernommen! –, so schwer wurde, dass er nicht mehr funktionieren konnte, weil er sich erschöpft … ausgelaugt … nutzlos fühlte. Ein oder zwei Mal im Monat legten sich die Schatten über ihn, dann saß er gelähmt und hilflos allein im Dunkeln, bis dieses Gefühl absoluter Verzweiflung endlich wieder verschwand. Doch solange es andauerte, musste er gegen das erbarmungslose Verlangen ankämpfen, sich seiner Pflicht, ein Dunkler
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