Der Wolf
Sozusagen das, was wir aus medizinischer Sicht sind«, sagte er leise.
»Medizinisch trifft es nicht ganz«, sagte Karen. »Forensisch wäre vielleicht präziser, oder? Ich überlege gerade«, fügte sie hinzu, »ob sich da draußen vielleicht irgendjemand für diese Proben interessieren könnte. Meinst du, der eine oder andere Ermittler in einem ungeklärten Fall könnte sie … wie soll ich sagen … aufschlussreich finden?«
Sie lächelte.
»So sieht’s aus: Das gesamte Material kommt an einen sicheren Ort. Vielleicht in ein Schließfach, vielleicht in den Safe einer Anwaltskanzlei. Schauen wir mal. Eins steht fest: Es wird irgendwo deponiert, wo du es nie im Leben finden wirst. Dein Laptop, das Album, die Fotos … alles, was wir heute Nacht mitnehmen werden. Drei Personen haben Zugang zu dem Versteck. Rote Eins, Rote Zwei und Rote Drei. Wir werden es Sarah überlassen, weit weg für die geeignete Unterbringung zu sorgen, denn sie ist diejenige, der du nie und nimmer auf die Spur kommen wirst. Für den höchst unwahrscheinlichen Fall, dass sich jemals wieder eine von uns kleinen Rotkäppchen auch nur im mindesten bedroht fühlt, wissen die Verbliebenen, was sie zu tun haben. Hast du das verstanden?«
Der Böse Wolf nickte. Sein Gesicht hatte eine beängstigend dunkle Farbe angenommen. Die drei Roten vermuteten, dass er jeden Muskel am Leib anspannte, um sich von den Klebebändern zu befreien. Zweifellos brodelte eine mörderische Wut in ihm. Doch noch während sie diese Beobachtungen anstellten, sahen sie, wie sich die hervorgetretenen Adern an seinem Hals entspannten und ihm stattdessen Angst und Resignation ins Gesicht geschrieben standen. Es war, als dämmerte ihm, dass er von jetzt ab für den Rest seines Lebens mit einer anderen Art von Fesseln leben musste, die ungleich stärker waren als Isolierband.
Alles, was er ihnen angetan hatte, würde jetzt mit ihm passieren. Karens Lächeln war verflogen. Noch einmal dachte sie:
Wie viele Menschen hast du ermordet?
Und so vertraut, wie sie als Ärztin mit dem Tod war, wusste sie, dass sie für seine früheren Opfer nichts mehr tun konnte. Doch sie und die anderen zwei Roten wären von dieser Sekunde an immun. Und so wechselte sie in eine Tonlage, die sie angeschlagen hätte, wenn sie einem verhassten Menschen mitteilen müsste, dass er an einer unheilbaren Krankheit litt.
»Du hast uns die ganze Zeit im Ungewissen gelassen, in ständiger Angst, und dann wolltest du uns töten. Jetzt machen wir dasselbe mit dir. Du wirst nie wieder das Klopfen an der Haustür hören, ohne zu denken, es wäre die Polizei. Du wirst nie wieder einen Streifenwagen im Rückspiegel sehen, ohne daraus zu schließen, dass es vorbei ist, oder die Straße entlanggehen, ohne dich zu fragen, ob dir ein Ermittler folgt. Wenn du morgens aufwachst, wirst du wissen, dass es dein letzter Tag in Freiheit sein könnte. Wenn du abends schlafen gehst, wirst du nicht sagen können, ob dein erbärmliches Leben am Morgen vorbei ist. Und es sind nicht nur die Cops, musst du wissen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass sich auch ein paar Angehörige der Opfer für diese Zusammenhänge interessieren werden. Oder Verteidiger, die mit diesem Material einen unschuldigen Klienten aus dem Knast bekommen. Und ich wage mir gar nicht auszumalen, wie so ein armes Schwein, das fünfzehn Jahre in der Todeszelle gesessen hat, zu dir steht. Ich glaube kaum, dass er über den kleinen Irrtum großzügig hinwegsieht.«
Sie deutete auf die Gegenstände.
»Stell es dir als eine Krankheit vor, eine tödlich verlaufende Krankheit.«
Sie schwieg einen Moment und fügte dann hinzu: »Versuche nicht, unterzutauchen. Wenn du verschwindest, werden wir es erfahren – und das alles hier … gelangt in die zuständigen Hände. Und glaub ja nicht, dass du uns Lebewohl sagen und dir eine andere arme Frau suchen kannst, die du ermordest, um dir deinen Kick zu verschaffen. Es ist schlicht aus und vorbei. Was du bis zu diesem Moment gewesen bist, ist Schnee von gestern. Von jetzt an bist du einfach nur ein ganz gewöhnlicher Mann, an dem nichts, aber auch gar nichts Besonderes ist. Klingt ziemlich schlimm, nicht wahr?«
Karen holte tief Luft. Es wäre nicht verwunderlich, dachte sie, wenn ein so tiefer Fall vom grandiosen Wolf zu einem bloßen Nichts tödlich verlaufen würde. Es war zu hoffen. Demütigung war eine gefährliche Waffe.
»Ich frage noch einmal: Kannst du jemanden töten, indem du ihn im Ungewissen
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