Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vincent Shadow und seine fabelhaften Erfindungen

Vincent Shadow und seine fabelhaften Erfindungen

Titel: Vincent Shadow und seine fabelhaften Erfindungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Kehoe
Vom Netzwerk:
1 VINCENT MACHT BLAU
    Für Spitznamen war an Vincents Schule Jeff Benz zuständig. Die Namen, die er verteilte, waren alles andere als schmeichelhaft und blieben für gewöhnlich leider hängen. Jimmy »Adlerauge« Pierson war das beste Beispiel dafür. Jimmy hatte ein bedauerliches Augenleiden und konnte daher Entfernungen nicht richtig einschätzen. In der zweiten Klasse rannte Jimmy einmal mit solcher Wucht in die Wand der Schulcafeteria, dass er zu Boden ging. Jeff Benz sprang sofort auf und brüllte: »Gut gemacht, Adlerauge.« Und das war’s. Für den Rest seines Lebens würde der Spitzname Adlerauge nun an Jimmy Pierson kleben. (Niemanden interessierte, dass Jimmy letztes Jahr operiert worden war und sich inzwischen ausgezeichneter Sehkraft erfreute. Nein, für die Schüler der Zentralen Mittelschule würde Jimmy Pierson für immer das »Adlerauge« bleiben.)
    Vincent Shadow hatte keinen Spitznamen, aber als er am Montagmorgen um 6.43 Uhr aus seinem
Geheimlabor auf dem Dachboden kletterte, fürchtete er, dass es damit ab dem heutigen Tag vorbei sein würde. Vincent war blau. Seine Hände waren blau. Sein Gesicht war blau. Selbst das Weiße seiner Augen war blau. Als er die versteckte Tür in der Rückwand seines Kleiderschranks schloss, konnte er nur an eines denken: die schrecklichen Spitznamen, die sich Jeff Benz für ihn ausdenken würde.
    »Hübscher Vogel, hübscher Vogel«, krächzte Nikola in seinem Käfig.
    »Pssst. Du weckst noch alle auf«, zischte Vincent dem Graupapagei zu, den seine Eltern ihm zum neunten Geburtstag geschenkt hatten. Vincent hatte den Vogel nach seinem großen Vorbild, dem Erfinder Nikola Tesla, benannt, und die Tatsache, dass sich sogar sein geliebter Papagei über ihn lustig machte, ließ ihn Böses ahnen.
    Vincent öffnete leise die Zimmertür und spähte in den Flur hinaus. Für gewöhnlich belegte seine älteste Stiefschwester Gwen das Badezimmer morgens mit Beschlag. Doch noch schliefen alle. Also schlich er auf Zehenspitzen ins Bad und schloss die Tür ab.
    »Perückenmann«, sagte Vincent zu sich selbst. »Die Huli-Perückenmänner aus Neuguinea. So werden sie mich nennen: ›Perückenboy.‹«
    Vincents Klasse hatte letztes Jahr den Stamm der Huli durchgenommen. Sie hatten es alle total cool gefunden, dass die Huli-Perückenmänner ihre Haut vor
Stammesfesten blau anmalten. Doch während er so in den Spiegel starrte, machte sich Vincent plötzlich weniger Sorgen um seinen neuen Spitznamen als um seine Gesundheit. Nicht nur waren seine Haut und seine Augen blau, seine Zunge und seine Zähne waren sogar tiefdunkelblau. Vincent hatte schon viele Unfälle im Labor gehabt – hier eine verschüttete Chemikalie, dort ein Schnitt oder ein leichter elektrischer Schlag, einmal hatte er sich sogar die Fingerspitzen zusammengeklebt –, doch das hier sah ernst aus.
    Dreißig Minuten lang stand Vincent unter der Dusche und schrubbte sich so heftig, wie er nur konnte, alles umsonst. Er probierte die teuren Shampoos und Duschgels seiner Schwester durch, doch das machte alles nur schlimmer. Er war immer noch blau wie ein Schlumpf, aber große Teile des Badezimmers mittlerweile auch. »Beeil dich, Vern«, rief Gwen und donnerte gegen die Tür. »Du bist schon seit über einer Stunde da drin.«

    Vincents Vater, Norton Shadow, hatte vor ein paar Monaten wieder geheiratet und Vincent war nun nicht länger ein Einzelkind, ein Zustand,
den er schmerzlich vermisste, sondern lebte mit drei Stiefschwestern zusammen: Gwen, Stella und Anna. Gwen war sechzehn und ging auf die Highschool in der Upper West Side. Stella war in Vincents Alter. Ihre Geburtstage lagen nur eine Woche auseinander. Da endeten die Gemeinsamkeiten aber auch schon. Anna war sechs. Ein zickiges, lästiges, aufdringliches sechs Jahre altes Gör.
    Gwen hatte Vincent »Vern« genannt. Vern – so hatte sie ihn noch nie genannt. Sie hatte ihn auch noch nie Vincent genannt.
    Genau genommen hatte sie ihm noch nie den gleichen Namen zweimal gegeben. Und obwohl die Namen meistens mit einem »V« begannen, kam ihr »Vincent« oder wenigstens »Vinny« nie über die Lippen. Es machte ihn wahnsinnig, doch niemandem sonst aus seiner Familie schien es aufzufallen.
    »ICH BIN IN EINER MINUTE FERTIG«, brüllte er Gwen zu, die gerade dabei war, die Tür mit ihrem Hausschuh einzuschlagen.
    Vincent putzte das Bad, so gut es ging, und wickelte sich dann ein Handtuch um den Körper, ein zweites ums Haar und das dritte zog er sich übers

Weitere Kostenlose Bücher