Der Zauberberg
Gipfelwelt des Hochgebirges, in das man hinan- und hineinstrebte, eröffneten sich und gingen dem ehrfürchtigen Auge durch Pfadbiegungen wieder verloren. Hans Castorp bedachte, daß er die Zone der Laubbäume unter sich gelassen habe, auch die der Singvögel wohl, wenn ihm recht war, und dieser Gedanke des Aufhörens und der Verarmung bewirkte, daß er, angewandelt von einem leichten Schwindel und Übelbefinden, für zwei Sekunden die Augen mit der Hand bedeckte. Das ging vorüber. Er sah, daß der Aufstieg ein Ende genommen hatte, die Paßhöhe überwunden war. Auf ebener Talsohle rollte der Zug nun bequemer dahin.
Es war gegen acht Uhr, noch hielt sich der Tag. Ein See erschien in landschaftlicher Ferne, seine Flut war grau, und schwarz stiegen Fichtenwälder neben seinen Ufern an den umgebenden Höhen hinan, wurden dünn weiter oben, verloren sich und ließen nebelig-kahles Gestein zurück. Man hielt an einer kleinen Station, es war Davos-Dorf, wie Hans Castorp draußen ausrufen hörte, er würde nun binnen kurzem am Ziele sein. Und plötzlich vernahm er neben sich Joachim Ziemßens Stimme, seines Vetters gemächliche Hamburger Stimme, die sagte: »Tag, du, nun steige nur aus«; und wie er hinaussah, stand unter seinem Fenster Joachim selbst auf dem Perron, in braunem Ulster, ganz ohne Kopfbedeckung und so gesund aussehend wie in seinem Leben noch nicht. Er lachte und sagte wieder:
»Komm nur heraus, du, geniere dich nicht!«
»Ich bin aber noch nicht da«, sagte Hans Castorp verdutzt und noch immer sitzend.
{15} »Doch, du bist da. Dies ist das Dorf. Zum Sanatorium ist es näher von hier. Ich habe ’nen Wagen mit. Gib mal deine Sachen her.«
Und lachend, verwirrt, in der Aufregung der Ankunft und des Wiedersehens reichte Hans Castorp ihm Handtasche und Wintermantel, die Plaidrolle mit Stock und Schirm und schließlich auch »Ocean steamships« hinaus. Dann lief er über den engen Korridor und sprang auf den Bahnsteig zur eigentlichen und sozusagen nun erst persönlichen Begrüßung mit seinem Vetter, die sich ohne Überschwang, wie zwischen Leuten von kühlen und spröden Sitten, vollzog. Es ist sonderbar zu sagen, aber von jeher hatten sie es vermieden, einander beim Vornamen zu nennen, einzig und allein aus Scheu vor zu großer Herzenswärme. Da sie sich aber doch nicht gut mit Nachnamen anreden konnten, so beschränkten sie sich auf das Du. Das war eingewurzelte Gewohnheit zwischen den Vettern.
Ein Mann in Livree, mit Tressenmütze, sah zu, wie sie einander – der junge Ziemßen in militärischer Haltung – rasch und ein bißchen verlegen die Hände schüttelten, und kam dann heran, um sich Hans Castorps Gepäckschein auszubitten; denn er war der Concierge des Internationalen Sanatoriums »Berghof« und zeigte sich willens, den großen Koffer des Gastes vom Bahnhof »Platz« zu holen, indes die Herren direkt mit dem Wagen zum Abendbrot fuhren. Der Mann hinkte auffallend, und so war das erste, was Hans Castorp Joachim Ziemßen fragte:
»Ist das ein Kriegsveteran? Was hinkt er denn so?«
»Ja, danke!« erwiderte Joachim etwas bitter. »Ein Kriegsveteran! Der hat es im Knie – oder hatte es doch, denn dann hat er sich die Kniescheibe herausnehmen lassen.«
Hans Castorp besann sich so rasch er konnte. »Ja, so!« sagte er, indem er im Gehen den Kopf hob und sich flüchtig umblickte. »Du wirst mir doch aber nicht weismachen wollen, daß du noch {16} so etwas hast? Du siehst ja aus, als ob du dein Portepee schon hättest und gerade aus dem Manöver kämst.« Und er sah den Vetter von der Seite an.
Joachim war größer und breiter als er, ein Bild der Jugendkraft und wie für die Uniform geschaffen. Er war von dem sehr braunen Typus, den seine blonde Heimat nicht selten hervorbringt, und seine ohnehin dunkle Gesichtshaut war durch Verbrennung beinahe bronzefarben geworden. Mit seinen großen schwarzen Augen und dem dunklen Schnurrbärtchen über dem vollen, gut geschnittenen Munde wäre er geradezu schön gewesen, wenn er nicht abstehende Ohren gehabt hätte. Sie waren sein einziger Kummer und Lebensschmerz gewesen bis zu einem gewissen Zeitpunkt. Jetzt hatte er andere Sorgen. Hans Castorp fuhr fort:
»Du kommst doch gleich mit mir hinunter? Ich sehe wirklich kein Hindernis.«
»Gleich mit dir?« fragte der Vetter und wandte ihm seine großen Augen zu, die immer sanft gewesen waren, in diesen fünf Monaten aber einen etwas müden, ja traurigen Ausdruck angenommen hatten. »Gleich wann?«
»Na,
Weitere Kostenlose Bücher