Der Zauberberg
überwältigend«, sagte Hans Castorp. »Wo sind denn die Gletscher und Firnen {19} und die gewaltigen Bergesriesen? Diese Dinger sind doch nicht sehr hoch, wie mir scheint.«
»Doch, sie sind hoch«, antwortete Joachim. »Du siehst die Baumgrenze fast überall, sie markiert sich ja auffallend scharf, die Fichten hören auf, und damit hört alles auf, aus ist es, Felsen, wie du bemerkst. Da drüben, rechts von dem Schwarzhorn, dieser Zinke dort, hast du sogar einen Gletscher, siehst du das Blaue noch? Er ist nicht groß, aber es ist ein Gletscher, wie es sich gehört, der Scaletta-Gletscher. Piz Michel und Tinzenhorn in der Lücke, du kannst sie von hier aus nicht sehen, liegen auch immer im Schnee, das ganze Jahr.«
»In ewigem Schnee«, sagte Hans Castorp.
»Ja, ewig, wenn du willst. Doch, hoch ist das alles schon. Aber wir selbst sind scheußlich hoch, mußt du bedenken. Sechzehnhundert Meter über dem Meer. Da kommen die Erhebungen nicht so zur Geltung.«
»Ja, war das eine Kletterei! Mir ist angst und bange geworden, kann ich dir sagen. Sechzehnhundert Meter! Das sind ja annähernd fünftausend Fuß, wenn ich es ausrechne. In meinem Leben war ich noch nicht so hoch.« Und Hans Castorp nahm neugierig einen tiefen, probenden Atemzug von der fremden Luft. Sie war frisch – und nichts weiter. Sie entbehrte des Duftes, des Inhaltes, der Feuchtigkeit, sie ging leicht ein und sagte der Seele nichts.
»Ausgezeichnet!« bemerkte er höflich.
»Ja, es ist ja eine berühmte Luft. Übrigens präsentiert sich die Gegend heute abend nicht vorteilhaft. Manchmal nimmt sie sich besser aus, besonders im Schnee. Aber man sieht sich sehr satt an ihr. Wir alle hier oben, kannst du mir glauben, haben sie ganz unaussprechlich satt«, sagte Joachim, und sein Mund wurde von einem Ausdruck des Ekels verzogen, der übertrieben und unbeherrscht wirkte und ihn wiederum nicht gut kleidete.
»Du sprichst so sonderbar«, sagte Hans Castorp.
{20} »Spreche ich sonderbar?« fragte Joachim mit einer gewissen Besorgnis und wandte sich seinem Vetter zu …
»Nein, nein, verzeih, es kam mir wohl nur einen Augenblick so vor!« beeilte sich Hans Castorp zu sagen. Er hatte aber die Wendung »Wir hier oben« gemeint, die Joachim schon zum dritten- oder viertenmal gebraucht hatte und die ihn auf irgendeine Weise beklemmend und seltsam anmutete.
»Unser Sanatorium liegt noch höher als der Ort, wie du siehst«, fuhr Joachim fort. »Fünfzig Meter. Im Prospekt steht ›hundert‹, aber es sind bloß fünfzig. Am allerhöchsten liegt das Sanatorium Schatzalp dort drüben, man kann es nicht sehen. Die müssen im Winter ihre Leichen per Bobschlitten herunterbefördern, weil dann die Wege nicht fahrbar sind.«
»Ihre Leichen? Ach so! Na, höre mal!« rief Hans Castorp. Und plötzlich geriet er ins Lachen, in ein heftiges, unbezwingliches Lachen, das seine Brust erschütterte und sein vom kühlen Wind etwas steifes Gesicht zu einer leise schmerzenden Grimasse verzog. »Auf dem Bobschlitten! Und das erzählst du mir so in aller Gemütsruhe? Du bist ja ganz zynisch geworden in diesen fünf Monaten!«
»Gar nicht zynisch«, antwortete Joachim achselzuckend. »Wieso denn? Das ist den Leichen doch einerlei … Übrigens kann es wohl sein, daß man zynisch wird hier bei uns. Behrens selbst ist auch so ein alter Zyniker – ein famoses Huhn nebenbei, alter Korpsstudent und glänzender Operateur, wie es scheint, er wird dir gefallen. Dann ist da noch Krokowski, der Assistent – ein ganz gescheutes Etwas. Im Prospekt ist besonders auf seine Tätigkeit hingewiesen. Er treibt nämlich Seelenzergliederung mit den Patienten.«
»Was treibt er? Seelenzergliederung? Das ist ja widerlich!« rief Hans Castorp, und nun nahm seine Heiterkeit überhand. Er war ihrer gar nicht mehr Herr, nach allem andern hatte die Seelenzergliederung es ihm vollends angetan, und er lachte so {21} sehr, daß die Tränen ihm unter der Hand hervorliefen, mit der er, sich vorbeugend, die Augen bedeckte. Joachim lachte ebenfalls herzlich – es schien ihm wohlzutun –, und so kam es, daß die jungen Leute in großer Aufgeräumtheit aus ihrem Wagen stiegen, der sie zuletzt im Schritt, auf steiler, schleifenförmiger Anfahrt vor das Portal des Internationalen Sanatoriums Berghof getragen hatte.
Nr. 34
Gleich zur Rechten, zwischen Haustor und Windfang, war die Concierge-Loge gelegen, und von dort kam ein Bediensteter von französischem Typus, der, am Telephon sitzend, Zeitungen
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