Dessen, S
E-Mails bezüglich seiner neuesten Zukunftsplanung schrieb, unweigerlichgefolgt von der Bitte, ihm mehr Geld zu schicken. Wenigstens konnten meine Eltern ihren Freunden jetzt erzählen, dass Hollis sich am Eiffelturm rumtrieb und Zigaretten rauchte, und nicht mehr an der Tanke. Das klang zumindest besser: nach Bohème und gepflegtem Nomadentum …
Hollis war das große Kind, ich die kleine Erwachsene, das Mädchen, das schon mit drei bei den Großen am Tisch saß und sorgfältig die Bilder in Malbüchern ausmalte, ohne auch nur einen Mucks von sich zu geben, während gelehrt über Literatur geplaudert wurde. Ich lernte schon sehr früh, mich mit mir selbst zu beschäftigen. Bereits im Kindergarten (und von da an bis in alle Ewigkeit) war ich wie besessen vom Lernen. Denn mit Bildung, Fleiß und Ehrgeiz konnte ich die Aufmerksamkeit meiner Eltern mühelos auf mich ziehen.
»Keine Sorge«, sagte meine Mutter, wenn einem unserer Gäste in meiner Gegenwart ein Schimpfwort entschlüpfte oder sonst etwas, das eigentlich nur für erwachsene Ohren bestimmt war. »Auden ist sehr reif für ihr Alter.« Was stimmte, egal, ob ich zwei oder vier oder siebzehn war.
Während Hollis es schaffte, seine eigenen Bedürfnisse durchzusetzen, wurde ich einfach überall mit hingeschleppt. Meine Eltern nahmen mich mit in Konzerte und Museen, zu wissenschaftlichen Symposien und Fakultätsversammlungen. Erwarteten, dass ich mich mucksmäuschenstill verhielt. Viel Zeit zum Spielen oder für richtiges Spielzeug blieb nicht. An Büchern hingegen herrschte nie Mangel, Bücher hatte ich immer mehr als genug.
Weil man mich so aufgezogen hatte, fiel mir der Umgang mit Gleichaltrigen eher schwer. Ihre Wildheit und Verrücktheit waren mir fremd. Ich begriff nicht, wie man wie eine Irre auf dem Fahrrad durch die Gegend rasen oder Kissenschlachten vom Zaun brechen konnte. Einerseits sah es zwar so aus, als würde es Spaß machen, andererseits unterschied es sich so sehr von allem, was ich kannte, dass ich mir nicht vorstellen konnte mitzumachen, selbst wenn sich die Gelegenheit dazu ergeben hätte. Was allerdings ohnehin nicht der Fall war, da die Kissenschlachten-Kämpfer und irren Radfahrer eher selten auf die akademisch ambitionierten Privatschulen gingen, die meine Eltern für mich bevorzugten.
Ich hatte in den letzten vier Jahren dreimal die Schule gewechselt. Auf der
Jackson Highschool
war ich nicht länger als ein paar Wochen, denn nachdem meine Mutter im offiziellen Unterrichtsplan einen orthographischen
und
einen grammatikalischen Fehler entdeckt hatte, schickte sie mich umgehend auf die
Perkins Day
, eine staatlich anerkannte Privatschule, die kleiner und vom Unterrichtsstandard her wesentlich besser war als die
Jackson High
. Allerdings längst nicht so gut wie
Kiffney-Brown
, die noch viel exklusivere Privatschule, auf die ich zu Beginn der vorletzten Highschool-Klasse wechselte.
Kiffney-Brown
war von mehreren ehemaligen Professoren in unserer Stadt gegründet worden und eine absolute Eliteeinrichtung: Maximal hundert Schüler, sehr kleine Klassen, intensiver Kontakt zur nächstgelegenen Universität (also der, wo meine Mutter lehrte), sodass man dort vorzeitig Seminare besuchen und erste Scheineerwerben konnte. An der
Kiffney-Brown
hatte ich zwar ein paar Freunde, aber innige Beziehungen zu entwickeln war trotzdem nicht einfach, weil wir einen Großteil unseres Unterrichts in Eigenregie strukturieren mussten, uns also ziemlich selten über den Weg liefen. Außerdem war die Atmosphäre insgesamt sehr wettbewerbsorientiert.
Was mir allerdings nicht viel ausmachte. Schule war mein Trost, mein Rückzugsort, ins Lernen konnte ich mich flüchten und dabei in meiner Fantasie tausend fremde Leben führen. Je mehr unsere Eltern sich über Hollis’ miese Zensuren und seinen Mangel an Eigeninitiative beklagten, umso eifriger lernte ich. Doch obwohl sie stolz auf mich waren, schienen mir meine Leistungen nie das einzubringen, was ich mir wünschte. Ich war so ein kluges Kind, ich hätte es eigentlich irgendwann kapieren müssen: Der einzige Weg, die Aufmerksamkeit meiner Eltern wirklich zu erringen, wäre gewesen, sie zu enttäuschen. Zu versagen. Doch als ich das endlich begriff, war es schon zu spät: Erfolg zu haben war mir derart in Fleisch und Blut übergegangen, dass ich es mir nicht mehr abgewöhnen konnte.
Mein Vater war zu Beginn meines zweiten Highschooljahres ausgezogen. Er mietete eine möblierte Wohnung in der Nähe des Campus.
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