Diagnose zur Daemmerung
Kapitel 1
Ich hatte in sechs Monaten sieben Kilo abgenommen.
Als Krankenschwester geht man natürlich zuerst die schlimmsten Szenarien durch: Krebs, Diabetes, TBC. Nachdem ich mich nach verdächtigen Knoten abgesucht, meinen Blutzucker gemessen und meine Hustenanfälle gezählt hatte, blieb mir noch die wesentlich wahrscheinlichere Diagnose – Depression. Und die war der Grund, weshalb ich nun hier war – was sich ziemlich merkwürdig anfühlte.
»Und ich kann Ihnen wirklich alles sagen?«, fragte ich, während ich der Psychologin gegenüber Platz nahm.
»Natürlich können Sie das, Edie.« Sie schenkte mir ein beruhigendes Lächeln und zupfte ihren langen Rock zurecht. »Worüber möchten Sie denn sprechen?«
Ich atmete ein paarmal tief durch. Es schien einfach keinen passenden Einstieg in meine Geschichte zu geben. Hi, ich habe früher Menschen verarztet, die von Vampiren gebissen wurden. Und ich bin nicht nur mit einem Zombie, sondern auch mit einem Werwolf ausgegangen. Ach, Sie wissen schon, das Übliche eben. Mit einem tiefen Seufzen gab ich zu: »Ich bin nicht ganz sicher, wie ich anfangen soll.«
»Alles ist gut, solange Sie sich damit wohlfühlen. Manchmal braucht man ein paar Sitzungen, bis das Erzählen rundläuft.«
»Wenn es nur so leicht wäre.« Sechs Monate waren eine lange Zeit – langsam sollte ich mal darüber hinwegkommen, dass ich gefeuert … na ja, geächtet worden war, aber es fühlte sich im Prinzip genauso an. Vielleicht hätte ich doch zulassen sollen, dass meine Erinnerungen ausgelöscht wurden; die Chance dazu hatte ich gehabt. War ja klar, dass ich mal wieder die falsche Entscheidung getroffen hatte. »Ich habe eine echt harte Zeit hinter mir.«
»Inwiefern?«
»Ich hatte einen Job, der mir wirklich Spaß gemacht hat. Doch dann habe ich ihn verloren und musste mich neu orientieren. Seitdem kommt mir mein Leben vor wie …« Von Winterende bis heute, also Juli, hatte ich Vollzeit in der Nachtschicht einer Klinik für Schlafstörungen gearbeitet und schnarchende Patienten überwacht. Das war nicht nur langweilig – mein Teint war jetzt noch blasser, und mein Sozialleben gehörte endgültig der Vergangenheit an.
Es entstand eine Pause, während der die Psychologin darauf wartete, dass ich den Satz beendete. Als ich beharrlich schwieg, füllte sie die Lücke: »Sprechen wir doch mal darüber, warum Ihnen ihr alter Job Spaß gemacht hat. Vielleicht können wir herausfiltern, was genau Ihnen Freude gemacht hat, und uns überlegen, wie Sie diese Dinge auf Ihre jetzige Situation übertragen können.«
»Hm, meine Kollegen waren echt nett. Und die Arbeit war aufregend.« Ich kaute auf meiner Wange herum.
»Und was genau war daran so aufregend?«, hakte sie nach, um mich zu ermutigen.
Ich musterte sie, ihr nettes Büro, die nette Couch, das nette Regal voll netter Dinge. Das Leben als Psychologin musste wirklich nett sein. Mein Blick wanderte zurück zu ihrem Gesicht. Sie lächelte mich an, und plötzlich wurde mir bewusst, was für eine einmalige Gelegenheit sich mir bot. Alles, was zwischen uns ausgetauscht wurde, unterlag der ärztlichen Schweigepflicht. Als Krankenschwester wusste ich natürlich, dass auch die Grenzen hatte. Doch solange ich weder für mich noch für andere eine Gefahr darstellte, durfte sie nichts von dem, was ich ihr anvertraute, weitergeben.
Außerdem würde sie mir ja sowieso nicht glauben.
Ich beugte mich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Wie stehen Sie zum Thema Vampire?«
Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte ihr Lächeln angespannt. »Als Psychologin ist es für mich wichtiger, zu wissen, was Sie denken – nicht andersherum. Also, sagen Sie mir, Edie: Wie stehen Sie zum Thema Vampire?«
»Wenn ich Ihnen nun sagen würde, dass sie tatsächlich existieren …«, begann ich. Ihr Lächeln schien sich weiter zu verkrampfen. »Okay, lassen wir das ›wenn‹ und ›würde‹ weg. Ich werde Ihnen sagen, was ich denke: Sie existieren. Und da draußen laufen sogar ziemlich viele von ihnen herum. Außerdem haben sie menschliche Diener, einige für die Drecksarbeit und andere, von denen sie sich einfach nur Blut holen, wie von menschlichem Vieh.«
Die Worte strömten nur so aus mir heraus. Ich wusste, dass ich eigentlich nichts davon erzählen durfte, und die Miene der armen Frau machte mir klar, dass sie es auch gar nicht hören wollte – aber es fühlte sich so gut an, endlich einmal mit jemandem darüber zu sprechen. Der Damm war
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