Die 39 Zeichen 08 - Entfuehrung am Himalaya
zirpenden Grillen zu. Er
faltete das Seidentuch zusammen und stopfte es sich unter das Hemd. Dann schwang er sich durch die Öffnung wieder aufs Dach.
Auf dem Weg nach unten war er besonders vorsichtig. Er legte sich flach auf die Schindeln, während er die Klapptür wieder schloss. Danach kroch er vorsichtig zu dem Pfosten, an dem er sicher nach unten klettern konnte. Vielleicht hätte er ein bisschen mehr Zeit darauf verwenden sollen, sich vorher genauer umzusehen – denn er rutschte geradewegs einem uniformierten Wachmann in die Arme. Und das war keiner von denen, die eine jahrhundertealte Tracht trugen. Auf seinem Jackett prangte vielmehr der rote Stern, das Zeichen für die chinesische Armee.
Der Mann bellte ihn in seiner Muttersprache an, bemerkte dann aber Dans westliche Gesichtszüge sowie die Verständnislosigkeit, die sich auf seinem Gesicht abzeichnete, und ging ins Englische über. »Dieser Bereich ist gesperrt!«
»Ich habe meine Reisegruppe verloren …«, begann Dan.
Der Offizier tastete ihn ab und hielt bei der weichen Wölbung unter seinem Hemd inne.
»Was ist das?« Er zog das gefaltete Seidentuch heraus.
Dans Kopf arbeitete in Lichtgeschwindigkeit. Wenn er die Schrift sieht, darf ich es niemals behalten.
Lautstark zog er die Nase und damit den gesamten Staub des Dachbodens hoch, den er bei seinem Ausflug eingeatmet hatte. Dann schnappte er sich das Seidentuch aus der Hand des Offiziers und trötete wie ein riesiger Elefant hinein.
Der Mann verzog angeekelt das Gesicht. »Wo sind deine Eltern?«
»Tot«, erwiderte Dan und steckte sich das Seidentuch wieder
unter das Hemd. Ich bin mit meiner Schwester hier, aber ich habe mich verlaufen.«
»Du lügst. Ich habe gesehen, wie du vom Dach dieses Gebäudes geklettert bist.«
»Ich wollte nur einen besseren Blick haben«, verteidigte sich Dan. »Ich habe versucht, das Museum zu finden, damit ich auch den richtigen Weg dorthin einschlage.«
Der Mann schnaubte verächtlich und deutete auf das gewaltige Dach des Hauptpalastes, das sich über die Verbotene Stadt erhob. »Das Museum ist wohl kaum zu übersehen.«
»Ich habe einen miesen Orientierungssinn«, entgegnete Dan schulterzuckend.
»Du bist ganz schön frech, junger Mann. Und du bist auch – wie heißt das in deiner Sprache? Ach ja – erledigt.«
Fünftes Kapitel
Amy folgte ihrer Reisegruppe zum Tor des Himmlischen Friedens . Sie fragte sich, ob Dan das geheimnisvolle Wappen der Janus aus dem Film wohl gefunden hatte.
Dass ihr elfjähriger Bruder in der Verbotenen Stadt allein unterwegs war, machte Amy zwar nervös, aber sie hatte bereits gelernt, mit solchen Gefahren umzugehen. In den vergangenen Wochen hatten die beiden Niederlagen erlebt und überlebt, gegen die diese Situation ein Kinderspiel war. Sie würden sich spätestens wiedersehen, wenn sie sich mit Nellie trafen – Amy sah auf die Uhr: also in einer halben Stunde. Sie hoffte, dass das Au-pair-Mädchen ein anständiges Hotel aufgetrieben hatte.
Bei dem Gedanken an Nellie runzelte sie kurz die Stirn. In letzter Zeit hatten sich die Hinweise gehäuft, dass ihre Freundin nicht die war, für die sie sich ausgab.
Oder vielleicht leide ich auch nur unter Verfolgungswahn …
Es war nicht weiter schwer, es darauf zu schieben, dass sie eine Madrigal war. Ihre Eltern hatten sich ständig verfolgt gefühlt, und das aus gutem Grund. Immerhin hatte es wirklich jeder auf sie abgesehen. Und eine hatte es schließlich geschafft, sie auszuschalten.
Doch ihre Eltern hatten ihre Geheimnisse nicht nur vor ihren Konkurrenten verborgen, sondern sogar vor ihren kleinen Kindern. Solange Amy zurückdenken konnte, hatte es zu
Hause immer Regeln gegeben: Halte dich vom Keller oder von einem bestimmten Schrank fern, öffne diese Truhe oder jene Reisetasche nicht. Erst jetzt fragte sie sich, was genau sie eigentlich vor ihnen geheim halten wollten – Granaten vom Schwarzmarkt, einen abgetrennten Kopf, Uran 235, den Ebola-Virus, die verschollenen Überreste des Wolfgang Amadeus Mozart? Immerhin waren sie ja die ›Nudelmans‹ gewesen. Amy zuckte bei dem Namen unwillkürlich zusammen. Sie hatte so wenige Erinnerungen an ihre Eltern und nun mussten selbst die winzigen Fetzen, die noch übrig waren, durch den Madrigal-Detektor gejagt werden. Jedes Wort, jede Geste musste darauf untersucht werden, ob es Anzeichen für etwas Böses gab. Das war wirklich jämmerlich.
Ein Mitglied ihrer Reisegruppe unterbrach ihre quälenden Tagträume.
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