Die Akte Kachelmann
Beiden vorgefallen ist, ganz früh am 9. Februar des Vorjahres. Zwei Sitzungen bleiben, dann müssen die drei Berufsrichter und die beiden Schöffen urteilen. Die vier Männer und die eine Frau, die nun eintreten, beneidet niemand. Nach über acht Monaten Hauptverhandlung steht noch immer Aussage gegen Aussage, Indizien gibt es einige, in die eine und in die andere Richtung, eigentliche Beweise fehlen. 15 Monate haben Polizei, Staatsanwaltschaft und Richter mit enormem Aufwand abgeklärt, wie es gewesen sein könnte. Bei kaum einem Vergewaltigungsvorwurf in der Geschichte der Bundesrepublik ist so intensiv ermittelt worden. Doch die Wahrheit über die Nacht von Schwetzingen kennen noch immer nur zwei Personen. Und beide haben nicht die Wahrheit über die letzten gemeinsamen Stunden gesagt.
Nun schaut sie aus den Augenwinkeln zu ihm. Vielleicht sieht sie den goldenen Ehering an seiner linken Hand. Einen ähnlichen hatte er früher jeweils getragen, wenn er sie traf. Eingraviert stand «Sonja».
Die Lügen der Sonja A. kennt mittlerweile jeder Zeitungsleser in Deutschland und in der Schweiz. Doch auch Jörg Kachelmann hat in seiner einzigen Aussage nicht alles richtig dargestellt – das offenbart nun das letzte Duell im vollbesetzten Gerichtssaal 1, hart, aber fair ausgetragen, zwischen Staatsanwalt Lars-Torben Oltrogge und Pflichtverteidigerin Andrea Combé.
Als Erster erhebt er sich zu seinem Plädoyer, sie wird eine Woche später erwidern. Oltrogge erklärt, weshalb er nur wenig von dem glaubt, was der Wettermoderator 14 Monate zuvor beim Haftrichter diktiert hatte. Die einzigen Angaben des Angeklagten zum Vorwurf seien «in wesentlichen Punkten falsch» gewesen. Dies fange an bei Jörg Kachelmanns Schilderung, wie Sonja A. ihn zum letzten Mal empfangen habe. Dafür habe der Angeklagte, so spekuliert Oltrogge, vielleicht eine literarische Vorlage verwendet: den Roman «Ruf! Mich! An!» der Journalistin und Ex-Wettermoderatorin Else Buschheuer. Buschheuer hat in wenigen Zeilen eine ähnliche Szene geschildert wie Jörg Kachelmann im Amtsgericht: Ihre Hauptfigur wartet bei angelehnter Tür auf dem Bett liegend auf ihren Sexualpartner, der das so bestimmt hatte. Gemäß einer Zeugin, so sagt Oltrogge, soll Jörg Kachelmann an Buschheuers «Roman für stinknormale Großstädter» mitgearbeitet haben.
Doch was lässt sich daraus schließen? Eine solche Inszenierung ist damals im Chat mit Sonja A. nicht verabredet worden. Das ausgemachte Programm für die Stunden um Mitternacht hat laut Staatsanwaltschaft darin bestanden, die Nudeln, bereits «vorgekocht», zu essen und dann die «Hauptaufgabe» zu erledigen.
Die Verteidigung wird die entscheidenden Zeilen im nicht eindeutigen Onlinedialog zwischen Jörg Kachelmann und Sonja A. – wiefast alles – genau umgekehrt deuten: zuerst Sex, dann Nudeln. Und dann Streit, dann Trennung, alles ohne Zwang, ohne Gewalt.
Jörg Kachelmann hatte in seiner einzigen Einvernahme beteuert, er habe Sonja A. in jener Nacht nur eine einzige Parallelbeziehung gestanden. Woher aber, wenn nicht von ihm, wussten die Radiomoderatorin und ihre Eltern bereits Stunden oder Tage später bei der Polizei von mehreren?
Pflichtverteidigerin Andrea Combé mutmaßt, dass ihr Mandant im Amtsgericht in diesem Punkt nicht die ganze Wahrheit gesagt haben könnte – und sie liefert eine Begründung: Als öffentliche Person sei Jörg Kachelmann selbst im Verhör auf sein Image bedacht gewesen. Das erwähnt die Rechtsanwältin aus Heidelberg zwar nur als Variante und nur am Rande. Spinnt man ihren Gedanken aber weiter, könnte es sein, dass Jörg Kachelmann, besorgt um seinen Ruf, sich unglaubwürdiger machte, als er es war. Hat er sich gar seine 132 Tage Untersuchungshaft zum Teil selbst zuzuschreiben?
Solchen Fragen stellt sich die Verteidigung in ihren Plädoyers nicht. Eingehender widmet sie sich den falschen Angaben von Sonja A.: Weshalb, möchte Combé wissen, hat die Anzeigeerstatterin bei den Flugticket-Kopien und dem angeblich anonymen Begleitschreiben «Er schläft mit ihr!» auch ihre Eltern angelogen? «Vielleicht deshalb», fragt die Anwältin rhetorisch, «weil sie ihre Lüge über Zeugenaussagen lancieren will?»
«Die Staatsanwaltschaft ist nicht so blöd, nicht zu erkennen», erklärt Lars-Torben Oltrogge, «dass die Nebenklägerin in vielen Punkten gelogen hat.» Sonja A., mit dem Rücken zum Publikum, atmet schwer, als der Ankläger direkt neben ihr fortfährt: «Diese Lügen sind mit
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